Weil der russische Präsident Überraschungen liebt, kramten Bernsteinzimmersucher Karten und Schaufeln wieder hervor
Boris Jelzin liebt Überraschungen. Vor allem solche, die er selbst bereitet. „Wir wissen jetzt“, erklärte der frischgekürte Präsident 1991 bei seinem Deutschland-Besuch, „wo das Bernsteinzimmer vergraben ist. Es ist in Kisten verpackt.“
Die Medien jubelten. Das war eine echte Sensation. Sogar die sonst eher zurückhaltende Hamburger Zeitschrift „Die Zeit“ erklärte: „Wenn nicht alles täuscht, ist das Bernsteinzimmer bald gefunden.“ Völlig unklar blieb jedoch, woher Jelzin seine Informationen hatte. Möglich, daß durch Glasnost verstaubte KGB-Akten ihr Wissen preisgegeben hatten. Möglich, daß nun, da der Kalte Krieg zu Ende war, die Geheimdienste Erkenntnisse austauschten und sich so die neue Spur ergab. Ich weiß es nicht. Und Jelzin verriet es nicht.
Der Schatz liegt nebenan
Doch diese „Lücke“ konnte die ausgebrochene Euphorie keineswegs bremsen. Das Heer der Bernsteinzimmersucher klappte fiebernd die Landkarten wieder auf. Bundeskriminalamt und Innenministerium schalteten sich ein. Der thüringische Bildungsminister Ulrich Fickel bildete eine Arbeitsgruppe, die die Fährte in Weimar prüfen sollte.
Der Journalist Wolfgang Schneider und der Bernsteinzimmer-Forscher Hans Stadelmann hatten diese verfolgt. Als Indiz galt ihnen die Aussage von Gauleiter Erich Koch. Der hatte in seiner Gefängniszelle erklärt: „Sagt mir, wo meine Kunstsammlung ist, dann kann ich euch sagen, wo das Bernsteinzimmer liegt.“
Die Kochsche Sammlung war nachweislich nach Weimar transportiert worden. Walter Scheidig, der damalige Direktor der Weimarer Kunstsammlung, hatte der Stasi in zahllosen Vernehmungen immer wieder bestätigt, am 4. Februar 1945 die Sammlung übernommen zu haben. Am 9. und 10. April 1945 hatten Rot-Kreuz-Lkw zwei Drittel des Kunstgutes wieder abgeholt. Wohin war der Konvoi gefahren?
„Ganz einfach“, sagte Hans Stadelmann, „nach nebenan, in das sogenannte Gauforum.“ Hitler hatte am 1. Mai 1937 eigenhändig den Grundstein für diesen nationalsozialistischen Prunkbau gelegt. Vier bis zu 157 Meter lange Gebäude wurden im Karree gebaut und durch unterirdische Wege miteinander verbunden. In dieses gigantische Stollensystem sollen die Schätze eingelagert worden sein.
Ein Heer von Presseleuten war erschienen. Die Offiziellen guckten bedeutungsvoll. Die Bauarbeiter schwitzten. Es wurde gebuddelt, gegraben, gesucht und gebohrt. Gefunden wurde nichts. Die Rot-Kreuz-Lkw waren also nicht nach „Nebenan“ gefahren. Wohin aber dann?
Verbrannte Beweise
Möglich, daß der Konvoi ins Jonastal fuhr. Hitler hatte hier, zwischen Arnstadt und den kleinen thüringischen Örtchen Crawinkel, einen unterirdischen Befehlsstand in den Berg einmeiseln lassen. Sein Tarnname: „S III“. Häftlinge des KZ Buchenwald trieben 25 Haupt- und zahllose Nebenstollen ins Gestein.
„S III“ wurde von Hitler nie bezogen. Im März 1945 drang die 3. US-Armee unter General Patton nach Thüringen vor. Eine Einheit der 6. SS-Gebirgsjägerdivision verteidigte die Taleingänge hartnäckig bis Mitte April. Während dieser Zeit – das berichten Zeitzeugen – wurden im 2,5 Kilometer langen Stollensystem fieberhaft Sprengungen gezündet. Sollten die Amerikaner bestimmte Dinge nicht finden? Andere Zeitzeugen erklärten, daß über den Bahnhof Crawinkel kistenweise Evakuierungsgut ins Jonastal transportiert wurde.
Kisten. Da war es wieder, das magische Wort. Seit jeher hat es die Bernsteinzimmer-Sucher elektrisiert.
Gustav Wyst war im Januar 1945 für einen Kunsttransport aus Königsberg verantwortlich. Sein Sohn Rudolf entdeckte nach dem Tod des Vaters eine fernschriftliche Vollzugsmeldung. Darin stand, daß Bernsteinzimmer sei in einem Objekt „B. Sch.“ oder „B. III.“ verborgen.
Leider verbrannte Sohn Rudolf das Beweisstück. Der Funkspruch von Gustav Wyst ergäbe einen Sinn, wenn das Versteck nicht „B. III.“, sondern „S. III.“ lauten würde. „Es ist gut möglich, daß ich auf dem völlig durchnäßten und teilweise unleserlichen Papier statt eines S ein B las“, sagte der Sohn dem Bernsteinzimmer-Forscher Günter Wermusch.
Besonders kribbelig machte die Hobbysucher, daß das Jonastal einer der letzten Orte war, den noch niemand auf „bernsteinzimmerhaltige“ Erdschichten untersucht hatte. Bis Anfang der 90er Jahre übte die Rote Armee hier streng bewacht den Krieg.
Merkwürdig ist nur, daß die Russen den Schatz nie selbst gehoben haben. Aber auch dafür lieferten die „Experten“ eine Erklärung. „Die Russen“, sagte ein mit Schaufel und Hacke bewaffneter Hobbyforscher, „sind doch viel zu blöde, so was zu finden.“ Sprach’s und tauchte siegessicher in das Stollensystem ab. Zwei Tage später wurde er halbtot aufgesammelt, weil er zu blöde war, den Ausgang zu finden.
Fledermäuse froh
Am 24. Oktober 1991 meldete die Tageszeitung „Neue Zeit“: „Die Suche im Jonastal blieb erfolglos.“ Das stimmt so nicht ganz. Zumindest die Legende, daß hier wertvollste Kunstgüter verborgen seien, wurde endgültig begraben. Erfreut über diesen Mißerfolg, dürften lediglich die Fledermäuse gewesen sein. Nachdem scharenweise Hobbyforscher in die Stollen eingedrungen waren, zog jetzt wieder Ruhe in ihre Kolonie ein. Unverbesserlichen Schatzsuchern drohte Landrat Lutz-Reiner Senglaub mit einer Ordnungsstrafe.
Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, ob heftiger Zuspruch zu Jelzins Lieblingsgetränk Auslöser für seine Bernsteinzimmer-Bemerkung war, oder ob er einfach nur schlecht beraten wurde. Möglich ist auch, daß Jelzin glänzend taktierte. Hans Stercken, damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, erklärte Ende November 1991 der Berliner Zeitung, Jelzins Aussage zum Bernsteinzimmer sei nur ein Köder gewesen: „Er wollte einen Stein ins Wasser werfen; sagen, laßt uns Schluß machen mit dem Versteckspiel und endlich über die im Zweiten Weltkrieg geraubten Kunstgüter verhandeln.“ Genauer besehen: Was hatte Jelzin denn gesagt? Doch nur, daß das Bernsteinzimmer in Kisten verpackt ist. Aber das war eigentlich nicht neu.
(c) Berliner Tageszeitung; Datum: 28.09.1995; Autor: Nick Reimer; Seite: 16