Der Waggon von Compiegne endete 1945 im Jonastal
Alte Einwohner von Crawinkel erinnern sich
(c) Thüringer Allgemeine am 07.05.1991
Das langjährige Rätselraten über die letzte Station des legendären Eisenbahnwaggons von Compiegne hat ein Ende. Der Salon-Waggon, in dem während des ersten und zweiten Weltkrieges zwei Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurden, gelangte im Frühjahr 1945 bis knapp vor seinen geplanten „Endbahnhof“ im Jonastal in Thüringen, wo sich Hitler ein Führerhauptquartier bauen ließ.
Nachdem 1918 in dem Wagen auf einer Waldlichtung bei der französischen Ortschaft Compiegne Deutschland mit den Alliierten des ersten Weltkrieges den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnen mußte, forderte Adolf Hitler im Juni 1940 „Revanche“ und ließ Frankreich am selben Ort und im selben Salonwagen ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnen.
Die neuen Erkenntnisse über die letzte Station des historischen Wagens sind vor allem älteren Einwohnern von Crawinkel zu verdanken. Bisher war man davon ausgegangen, daß der Waggon, den Hitler „heimlich ins Reich“ führte, irgendwo zwischen Berlin und Thüringen einem Luftangriff zum Opfer fiel. Alte Crawinkler wie der heute 70jährige Paul Ostermann haben den Wagen jedoch im Frühjahr 1945 unversehrt auf einem ehemaligen Nebengleis in ihrem Ort in der Nähe des Jonastales gesehen, „Die Wipfel der Bäume waren zusammen gebunden, damit man den Wagen von dar Luft aus nicht sehen konnte“, erinnert sich der damalige Lehrausbilder. Zum Kriegsende sei der Waggon jedoch ausgebrannt. Ältere Bürger aus der Gegend hatten die Vernichtung des Waggons durch die SS beobachtet. Dies deckt sich mit Erkenntnissen des französischen Eisenbahnhistorikers Jean des Gars. Ein Zeuge nennt als Zeitpunkt die Tage zwischen dem l. und 3. April. Viel sei von der Eisen- und Holzkonstruktion nicht übrig-geblieben, erzählt Paul Ostermann. Doch einige Leute der Umgebung hätten noch „allerhand Gegenstände“ von dem Wagen. Er selbst hat einen kupfernen Buchstaben aus der Wagenbeschriftung, der zur Zeit in Frankreich auf seine Echtheit überprüft werden soll. Der Waggon, von dessen Resten der Bedarf an fast Allem nach Kriegsende nichts mehr übriggelassen hat – Ostermann fertigte beispielsweise Beschläge für seine Haustür aus Teilen des Kupferbleches – ist nur ein einzelnes Zeugnis, der unaufgearbeiteten Geschichte in den Wäldern um Crawinkel. Mehr als ein Dutzend Bunker und Reste, der „Muna“. einer ausgedehnten „Munitionanstalt“, in der Bomben und Flakmunition für die Luftwaffe hergestellt wurden, modern vor sich hin. Am meisten orakelt wird jedoch über das unterirdische Bunkersystem in den Bergen des Jonastales zwischen Crawinkel und Arnstadt, das Hitler als neues Füherhauptquartier ausschachten ließ und dessen Eingang beim Anrücken der Amerikaner gesprengt worden sein soll. Vermutet wird, daß sich der Bunker auf einer Länge von 2,5 Kilometern durch den Berg ziehen sollte. Nach Wissen Paul Ostermanns seien etwa 1,5 Kilometer fertig gewesen.
Auch von einem „Schatz“ wird gemunkelt, der dort versteckt sein soll. Dabei werden das seit Jahrzehnten gesuchte Bernsteinzimmer genauso g«. handelt wie andere Kunstschätze oder das Reichsarchiv. Genaue Untersuchungen werde es aber wohl erst geben können, wenn die Sowjets, die noch bis Ende des Jahres auf weiten Teilen des Geländes stationiert sind, abgezogen sind. Kaum noch Spuren in den Wäldern gibt es hingegen von den vielen geschundenen Häftlingen, die im Außenlager des etwa 70. Kilometer entfernten Konzentrationslagers Buchenwald eingesperrt waren und vor allem für die Arbeiten am Führerhauptquartier herangezogen wurden. Eine Stele im Jonastal erinnert an die „5000 KZ-Buchenwaldhäftlinge, die hier von den Faschisten 1943-1945 ermordet wurden“.
Anett Indyka