von Klaus Reinhold – Chronik Arnstadt (704 – 2000) Teil III
Höhepunkte der Stadtgeschichte und sonderbare Begebenheiten
Abschnitt: Die Besetzung der Stadt, Seite 218
1945
Nach der Einnahme der Stadt durch die Amerikaner rollten nun seit dem 11.4. Tag und Nacht Panzer, Geschütze, Lastkraftwagen und anderes Kriegsgerät durch die Stadt, jeden Tag. Vielen Bewohnern, die das sahen, kamen zum ersten Mal Zweifel: „Und das sollte der Volkssturm aufhalten!?“
Auf die Straße durften die Arnstädter zunächst nur von 7.00 bis 9.00 und von 16.00 bis 18.00 Uhr.
Während dieser Ausgangszeit mußten alle Waffen, Ferngläser, Radios und Fotoapparate abgegeben werden. Auf Waffenbesitz stand die Todesstrafe. Die Amerikaner quartierten sich ein. Man sah viele Arnstädter mit Koffern durch die Stadt gehen, die eine andere Bleibe suchten, weil sie ihre Wohnungen zur Verfügung stellen mußten. Am Freitag, dem 13.4., erhielten die Bäcker die Erlaubnis, ihre Geschäfte zu öffnen.
Ausgang für die Bevölkerung gab es nun von 7.00 bis 19.00 Uhr. Seit 20.4. hatte Arnstadt auch wieder elektrischen Strom. Die Arnstädter Frauen legten schnell ihre Angst vor den ehemaligen Feinden ab. Schokolade und Kaugummi taten das Ihrige dazu. Auch begannen sie damit, Englisch zu lernen. Bomberverbände, die dröhnend die Stadt überflogen, stellten auch plötzlich keine Gefahr mehr dar. Ihre tödliche Last warfen sie nun anderswo ab. Es war alles so anders geworden. Man sagte wieder „guten Tag“, statt „Heil Hitler!“ Ab 23.4. wurde die Ausgangszeit von 6.00 bis 20.30 Uhr festgelegt. Arnstadt glich am 26.4. einem einzigen riesigen Heerlager. Von der Plaueschen Straße durch die ganze Stadt, Längwitz und Marlittstraße, alles voll mit Panzern und schweren Geschützen. Alles das rollte am nächsten Tag weiter in Richtung Front.
Hitler hatte Dönitz zum Nachfolger bestimmt und am 30.4.1945 Selbstmord begangen. Eine große Last für die Arnstädter Bevölkerung bedeuteten die befreiten Polen und Russen, die in verschiedenen Baracken, im Kurhaus und Ritterstein untergebracht waren. Sie hatten sich Pistolen verschafft und fuchtelten damit herum, wenn sie einen Arnstädter sahen, der etwas bei sich trug, was sie eigentlich auch gebrauchen konnten. Es sind Fälle vorgekommen, wo Leute Kleidungsstücke (Mäntel) ausziehen und hergeben mußten. Besonders beliebte Beutestücke waren Fahrräder, die sie entweder stahlen oder mit der bewährten „Pistolenmethode“ sich „schenken“ ließen. Als das den Amerikanern zu Ohren kam, führten sie Razzien bei den Russen und Polen durch. Am 1.5.1945, zum Beispiel, nahmen sie ihnen die gestohlen Fahrräder wieder ab und brachten sie in Sicherheit. Das waren nicht etwa nur ein paar wenige Drahtesel, die sie sich angeeignet hatten, sondert ein großer LKW voll beladen. Die Amerikaner brachten am Rathaus einen Anschlag mit dem Hinweis an, dass sich die Geschädigten ihre Fahrräder dort wieder abholen könnten.
Am Freitag, dem 4.5.1945, trat Waffenruhe in Deutschland ein, nachdem bereits am 2. Mai der Kommandant des „Verteidigungsbereiches Berlin“ kapituliert hatte. Am 7.5. unterzeichneten Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Stabes des OKW und Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, die bedingungslose Kapitulation. Der offizielle Waffenstillstand trat am 9.5.1945 um 00.01 Uhr in Kraft. In Arnstadt war aber am Vortage, dem 8.5., noch einmal Fliegeralarm. Ein deutscher Pilot, der nicht in russische Gefangenschaft gehen wollte, stürzte sich mit seiner Maschine auf die Kartonagenfabrik, die sofort in Flammen stand. Ein anderer Pilot, ein Arnstädter, landete mit einem „Fieseler Storch“ auf dem Eichfeld und ergab sich den Amerikanern. In der Nacht vom 8. zum 9.5. verübten die befreiten Ausländer 40 Kellereinbrüche in Arnstadt. Am Freitag, dem 11.5.1945, gegen Abend, gaben die Sirenen Feuer- und „Plünderer“-Alarm. Aus Richtung des Ausländerlagers Ritterstein war eine heftige Schießerei zu hören. Die Amerikaner bezogen in der ganzen Stadt ihre Militärposten.
Die in Arnstadt festgenommen, etwa 200 Parteigenossen (Pg’s), erhielten am Morgen des 13.5.1945 Hacken und Schaufeln, und mußten nach Espenfeld ausrücken, um die ermordeten KZ-Häftlinge aus einem Massengrab in Einzelgräber umzubetten. Dies war gewiß keine leichte Aufgabe bei der an diesem Tage herrschenden Hitze. Die bereits in Verwesung übergegangenen Leichen mußten in Särge gelegt werden. Am 14.5. fand dann die Beerdigung statt. Vorher aber, um 9.00 Uhr, mußte die Arnstädter Bevölkerung, die Opfer besichtigen. Dort standen 96 Särge. Die meisten Leute waren erschrocken und entsetzt, als sie die aufgebahrten Opfer sahen. Das hatten sie gewiß nicht vermutet, daß Deutsche zu solchen Verbrechen fähig sein konnten. Viele begannen sich zu schämen, zu einem Volk zu gehören, das sich einmal das Volk der Dichter und Denker nennen durfte. Nun war es dank der Nazis das Volk der Verbrecher und Massenmörder geworden. In diesem Moment fand sich wohl keiner, der stolz gewesen wäre, ein Deutscher zu sein.
Am Nachmittag dieses denkwürdigen Tages kam es im Jonastal zu einem schweren Zwischenfall. Ein Ingenieur der Siemenswerke wurde von Ausländern erstochen. Amerikanische Soldaten nahmen die Täter fest und ließen sie auf der Stelle erschießen. Es herrschte immer noch Kriegsrecht! Am Sonnabend, dem 26.5.1945, fanden in der katholischen Kirche mehrere Trauungen statt, allerdings vermählten sich dort nur Ausländer. Für Deutsche war heiraten zur dieser Zeit verboten. Mit den Siegern kam auch Marlene Dietrich in amerikanischer Uniform nach Arnstadt. Beim Arnstädter Landrat forschte sie nach dem Verbleib ihrer Mutter, die von Berlin nach dem Kreis Arnstadt evakuiert worden war. Eine Augenzeugin, die nicht genannt sein möchte, schilderte ihre Begegnung mit Marlene Dietrich: „Ihr Auftreten uns gegenüber war ziemlich herablassend, sie trug die Siegermentalität der Amerikaner zur Schau…“ Schließlich fand die Dietrich hier ihre Mutter und konnte sie nach jahrelanger Trennung in die Arme schließen.
Die Stromversorgung klappte noch lange nicht reibungslos. Tagsüber gab es meist überhaupt keinen Strom. Viele Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft waren (oder auch nicht) kamen heim oder passierten die Stadt um nach Hause zu gelangen. Es gab keine Unter- Marlene Dietrich künfte für sie. Die Amerikaner brachten sie in Lastwagen unter, damit sie nicht fand nach vielen auf der Erde schlafen mußten. Jahren der Trennung Polizeibeamte kontrollierten ab dem 30.5.1945 die gelagerten Lebensmittelbe- in Arnstadt ihre stände der Bewohner (Kartoffeln, Konserven) und notierten alles. Mutter wieder Die Amerikaner hatten ab 2.6. damit begonnen, ehemalige Nazigrößen, die nicht geflohen oder wieder aufgetaucht waren, aus den Ämtern zu entfernen und teilweise auch zu inhaftieren.
Die Alteburg war seit etwa dem 3.6. von den Amerikanern als eine Art Kameradschaftsheim beschlagnahmt worden. Einheimische hatten keinen Zutritt mehr. Ab dem 4.6.1945 begann sich die Stromversorgung zu normalisieren. Abgesehen von gelegentlichen Abschaltungen war auch wieder am Tage Strom vorhanden. 8 Nazis, die eine Hakenkreuzfahne tragen und das Horst-Wessel-Lied singen mußten, wurden am 5.6.1945 von den Amerikanern zum Vergnügen der Besatzer durch die Stadt geführt.
Ein schreckliches Gerücht machte ab dem 7.6. die Runde: „Die Russen werden Thüringen besetzen!“ Die Leute waren von einer panischen Angst ergriffen. Es half aber nichts. Am Montag, dem 2.7., rückten die Amerikaner ab, und Sowjetsoldaten zogen in Arnstadt ein. Sie kamen nicht, wie die Amerikaner mit motorisierter Technik, sondern hauptsächlich mit Pferdewagen an. Nicht selten war an den Fuhrwerken hinten eine Kuh angebunden, die für die entsprechende Milchversorgung auf dem Transport zu sorgen hatte. Der Schloßgarten diente für die hier angekommenen „Fuhrwerke“ als Ausspanne. Die Russen benötigten als Unterkunft bedeutend mehr Platz als vorher die Amerikaner, und so mußten jetzt viele weitere Bewohner ihre Wohnungen räumen.
Kaum waren die Russen da, schon gab es die ersten Verhaftungswellen: Dr. Voigt, Herr Böttner, Amtsrat Crimman und viele andere. Am 25.7. wurden alle Banken und Sparkassen vorübergehend gesperrt. Eine zweite Verhaftungswelle durch russisches Militär gab es am Freitag, dem 10.8. Mehrere hundert Bürger wurden festgenommen und verhört, dann zum Teil wieder entlassen. Alle Häuser der Stadt wurden vom Keller bis zum Boden durchsucht. Am nächsten Tag, dem 11.8., ging die Razzia weiter.
Überall in der Stadt standen Posten, die Ausweiskontrollen durchführten. Verhaftet wurde u. a. Rat Zöller. Seit etwa 12.8.1945 zogen hier mehr und mehr Menschen durch, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren: Sudetendeutsche, Ostpreußen, Pommern und Schlesier. Sie berichteten über schreckliche Erlebnisse. Es geschahen viele Selbstmorde, ganze Familien gingen gemeinsam in den Tod. Eine weitere Razzia fand am Mittwoch, dem 5.9.1945, statt. Zöller und Crimmann wurden am 7.9.1945 wieder freigelassen. Die Angst in der Bevölkerung vor den Russen ließ allmählich nach. Die Besatzer gingen meist, wenn sie nicht auf Posten waren, ohne Waffen aus dem Haus und trugen rote Armbinden mit den Buchstaben K H. (Das H ist natürlich das russische N.) Von Terror gegen die Bevölkerung, Vergewaltigungen oder anderen Ausschreitungen ist – was Arnstadt betrifft – nichts bekannt geworden.