Hiroshima:  „Deutsche Produktivität nutzen“
War das Dritte Reich der Atombombe doch viel näher als vermutet? (Teil II)
Von STEFAN GELLNER

Die Frage einer möglichen deutschen Atomwaffenproduktion im Jonastal führt zu einem kurzen Rückblick auf die deutsche Atomforschung während des Dritten Reiches. Nach herrschender Meinung soll die deutsche Seite zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen sein, eine Atombombe zu bauen. Diese Einschätzung speist sich zum einen aus Aussagen deutscher Kernphysiker wie Heisenberg, Hahn oder von Weizsäcker. Sie erklärten nach dem Krieg, daß die deutschen Physiker „aus Prinzip“ keine Atombombe bauen wollten. Zur dominierenden und bis heute nicht mehr in Frage gestellten Sichtweise wurde jene Darstellung durch das Memorandum der führenden (?) Wissenschaftler des deutschen Kernforschungsprojektes vom 8. August 1945, dessen Motivation der Atombombenabwurf auf Hiroshima war. Hier erklärten die im Landhaus „Farm Hall“ in Godmanchester bei Cambridge internierten Wissenschaftler Heisenberg, Hahn, Bagge, von Laue, Carl Friedrich von Weizsäcker u. a., daß Deutschland nicht am Bau einer A-Bombe gearbeitet habe.

Dies korrespondiert mit be-kanntgewordenen amerikani-schen Geheimdienstberichten. So schrieb der Physikprofessor Samuel Goudsmit in einem Bericht an den Leiter des „Manhattan Project“, General Leslie R. Groves: „Die Deutschen glaubten, sie seien den amerikanischen Entwicklungen weit voraus. In Wirklichkeit lagen sie, obwohl sie früher begonnen hatten, weit zurück. Sie hatten den Gedanken, eine Bombe zu bauen, völlig aufgegeben (!) und konzentrierten ihre Bemühungen auf die Konstruktion einer energieerzeugenden Maschine, die sie Uranbrenner nannten …“ Goudsmits Worten kommen deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil er für die wissenschaftliche Betreuung der sogenannten „Alsos-Mission“ zuständig war, deren vorrangiges Ziel die Sabotage des deutschen Atomwaffenprogramms war.

Diese Spezialeinheit hatte laut Harald Fäth („1945 – Thüringens Manhattan Project“) unbegrenzte Vollmachten. Mit dem militärischen Leiter der „Alsos-Mission“, Oberst Boris Pash, durchkämmte Goudsmit in den letzten Kriegsmonaten jedes erreichbare Labor in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Für ihn waren nach Fäths Ausführungen die Berichte, die den Amerikanern in der Reichsuniversität von Straßburg in die Hände fielen, von entscheidender Bedeutung. Die Straßburger Dossiers enthielten eine Reihe von Hinweisen auf das deutsche Atomforschungsprogramm. Goudsmit glaubte aus diesen schließen zu können, daß die deutsche Atomforschung weit hinter der amerikanischen zurücklag. General Groves blieb nach Fäth den Berichten Goudsmits gegenüber zunächst skeptisch. Erst die Besetzung des deutschen Versuchsmeilers in Haigerloch bei Hechingen/Hohenzollern durch die Amerikaner beruhigte auch Groves. Die deutsche Atomforschung war offensichtlich, so die Schlußfolgerung nach einer Besichtigung der Anlagen in Haigerloch, weit davon entfernt, die Bombe realisieren zu können. An dieser Auffassung nagen jedoch ganz erhebliche Zweifel. Fäth verweist auf eine befremdend wirkende Äußerung des wissenschaftlichen Leiters des „Manhattan Project“, Robert Oppenheimer. Der erklärte, daß die Hiroshima-Bombe deutscher Herkunft gewesen sei. Diese Aussage deckt sich mit einer Anweisung des amerikanischen Generalstabs unter dem streng geheimen Decknamen „Project Overcast“ vom 6. Juli 1945, in der die Rede davon ist, daß die „intellektuelle Produktivität der Deutschen genutzt werden“ solle, die im „Krieg gegen Japan nützlich“ sein könne. Zu Recht stellen Fäth u. a. Autoren die Frage, wie deutsche Atomwissenschaftler nützlich hätten sein können, wenn ihr Forschungsstand weit hinter dem der Amerikaner zurückgelegen haben soll?

Das führt zu dem bisher schwerwiegendsten Argument gegen den möglichen Bau einer deutschen Atombombe: der Zerstörung des Hydrierwerkes bei Vermork in Norwegen im November 1943. Bereits Ende Februar 1943 wurde diese Fabrik, die „schweres Wasser“ herstellte, das als Moderator in Kernreaktoren eine wichtige Rolle spielt, bei einem Sabotageunternehmen schwer beschädigt. Zur Erläuterung: Als Moderator wird eine Bremssubstanz bezeichnet, die die kinetische Energie schneller Neutronen in einem Kernreaktor vermindert, damit diese neue Spaltvorgänge hervorrufen können. Auch der Transport einer verbliebenen Lieferung von „schwerem Wasser“ nach Deutschland soll vereitelt worden sein. Allgemein wird deshalb davon ausgegangen, daß dessen Produktion Ende 1943 zum Erliegen gekommen war.

Fäth führt hiergegen eine Aussage des Physikers Kurt Diebner an. Diebner betrieb mit einer Reihe weiterer Wissenschaftler in den letzten Kriegsmonaten in den Kellerräumen eines Schulgebäudes in Stadtilm nahe dem Jonastal ein Atomreaktorlabor. Ihm zufolge soll das gesamte Hydrierwerk in Norwegen abgebaut und nach Deutschland gebracht worden sein. Auf die Frage eines Kollegen nach dem „Woher“ des „schweren Wassers“, das Ende 1943 in Deutschland ankam, antwortete Diebner wörtlich: „Dieses ‚schwere Wasser‘ ist der abgelassene Rest, welcher entstand, als das Hydrierwerk (in Norwegen, d.Verf.) abgebaut und nach Deutschland verlagert wurde. Es war bekannt geworden, daß möglicherweise ein Anschlag auf die Fähre (die die entsprechenen Fässer transportieren sollte, d.Verf.) geplant war, und so beförderte sie nur normale Wasserfässer; die echten wurden auf dem Landweg hergebracht.“

Die „Alsos-Mission“ stieß auf den Namen Diebner erstmals im August 1944, als Colonel Pash den französischen Atomphysiker Frédéric Joliot-Curie vernahm, den Diebner 1940 über den Stand der französischen Kernforschungsarbeiten ausgefragt hatte. Vom Forschungsstandort Stadtilm soll die „Alsos-Mission“ erst nach der Besetzung Stadtilms erfahren haben. Als Pash und Goudsmit dort eintrafen, waren Diebner und seine Mitarbeiter nach Aussage des Diebner-Kollegen Walther Gerlach jedoch bereits von der Gestapo nach Bad Tölz evakuiert worden. Erst im Mai 1945 konnten die Amerikaner Diebners habhaft werden. Zusammen mit Heisenberg wurde er in das „Alsos“-Hauptquartier nach Heidelberg gebracht. Laut Wermusch/Remdt („Rätsel Jonastal“) war die Feindschaft zwischen Heisenberg und Diebner so ausgeprägt, daß sie kaum ein Wort wechselten.

Alle Erkenntnisse der „Alsos-Mission“ wurden sofort an die Beteiligten des „Manhattan-Projects“ weitergeleitet. Die Beute erschien den US-Stellen äußerst wertvoll – mit gutem Grund: Harald Fäth macht in seinem Buch „Geheime Kommandosache – S III Jonastal“ darauf aufmerksam, daß die Amerikaner im Frühjahr 1945 keineswegs so weit waren, wie sie der Welt bis heute glauben machen wollen.

Fäth zitiert in diesem Zusammenhang u. a. ein Memorandum von Senator Byrnes an den amerikanischen Präsidenten vom 3. März 1945. Darin äußert Byrnes –vier Monate vor dem ersten erfolgreichen Atomtest – ganz erhebliche Zweifel am Gelingen des „Manhattan Project“.

Daß Byrnes’ Bedenken durchaus berechtigt waren, zeigen die von Fäth angeführten Recherchen des US-Autors Carter Hydrick. Dieser argumentiert, daß das Projekt trotz des Einsatzes von zwei Milliarden Dollar vor dem Scheitern stand. Weder verfügten die Amerikaner im Frühjahr 1945 über genügend angereichertes Uran noch über einen Zünder für die Plutonium-Bombe. Dies änderte sich augenscheinlich schlagartig nach der Besetzung der Labors in Stadtilm und Haigerloch, kündigte Präsident Roosevelt doch am 25. April 1945 an: „Im Laufe der nächsten vier Monate werden wir mit aller Wahrscheinlichkeit die schrecklichste Waffe fertigstellen, die die Menschheit in ihrer Geschichte je gekannt hat. Eine Waffe, die es ermöglichen könnte, mit einer Bombe eine ganze Stadt zu zerstören.“ Die Schwierigkeiten schienen sich urplötzlich in Luft aufgelöst zu haben … Karl-Heinz Zunneck bringt für diese plötzliche Wende in seinem Buch „Geheimtechnologien 2“ interessante Erklärungen, die darauf hindeuten, daß der letztendliche Erfolg des „Manhattan Project“ erst durch die Erbeutung der deutschen Forschungsergebnisse möglich wurde. Von nicht unwesentlicher Bedeutung ist Zunnecks Hinweis, daß die von den Amerikanern angewandte Diffusionsmethode „das teuerste, langwierigste und umständlichste Verfahren für die Herstellung der Atomwaffe überhaupt war“. Dies war der Grund dafür, daß jenes Verfahren von den Deutschen von vornherein abgelehnt wurde. „Es gab alternative Methoden“, so Zunneck, „beispielsweise in Form der Verwendung einer Ultrazentrifuge für die Isotopentrennung. Denkbar wäre auch der Einsatz eines Teilchenbeschleunigers, um an die Grundstoffe der Atomwaffe zu gelangen.“

Diese Technologien sollen nach den Thesen Zunnecks im Raum des Truppenübungsplatz Ohrdruf-Jonastal unterirdisch zum Einsatz gekommen sein. Diese Technologien seien auch der Grund dafür gewesen, warum SS-Obergruppenführer Dipl.-Ing. Hans Kammler die Gesamtleitung für das ganze Projekt übernahm. Der Name Kammler stand, wie in Teil 1 (OB, Folge 20) erwähnt, für Hochtechnologieprojekte wie in Nordhausen (Mittelwerke; V2-Produktion) oder Prag (Skoda). Harald Fäth glaubt aus diesen und anderen Hinweisen ableiten zu können, daß im Jonastal an der „Amerika-Rakete“gebaut wurde. Der möglicherweise kriegsentscheidende Aspekt dieser Rakete: ein nuklearer Gefechtskopf! Eine gewisse Wahrscheinlichkeit bekommen Fäths Thesen durch einen von Karl-Heinz Zunneck zitierten Augenzeugenbericht des deutschen Flugzeugführers und Flakraketenspezialisten Zinnsser gegenüber dem US-Militär. Zinnsser startete im Oktober 1944 für einen Einsatz von Ludwigslust aus in östliche Richtung. Er flog demnach an einem – so Zinnsser – „Atomtestgelände“ vorbei, das er aus einer Entfernung von zwölf bis 15 Kilometern beobachtet habe. Dabei habe er einen „gewaltigen Lichtblitz“ registriert, der für etwa zwei Sekunden den Himmel erhellte. Der Augenzeuge sprach von einer deutlich sicht- und spürbaren Druckwelle und von einer großen Explosionswolke, die sich daraufhin bildete.

Auf den Einwand, daß die Explosion einer derartigen Bombe die Verstrahlung eines weiten Gebietes hätte hervorrufen müssen, antwortet Zunneck, daß dies für eine Atombombenkonstruktion zutreffe, wie sie in Japan zum Einsatz kam. „Was aber“, so Zunneck, „wenn das von Zinnsser beobachtete Schauspiel eine Bombe betraf, die vor allem durch Druck und Hitze primär zerstörerisch wirken sollte? Oder aber bei der die freiwerdende Radioaktivität minimal war und nur über eine kurze Zeit zu registrieren war – wie bei einer Neutronenbombe?“ Provokante Fragen, die Widerspruch herausfordern. Mit Recht verweist Fäth aber auf die lange Liste waffentechnischer Neuerungen auf deutscher Seite, denen die alliierte Seite nichts Entsprechendes entgegenzusetzen hatte. Alle waffentechnischen Weiterentwicklungen nach dem Krieg basierten direkt oder indirekt auf deutscher Grundlagenforschung. In diesem Zusammenhang sei nur auf die V1 und V2, die Panzer der Tiger-Klasse, die Düsenjäger der Luftwaffe, die Flugabwehrraketen oder auf die gelenkten Bomben verwiesen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es in der Tat wenig glaubwürdig, daß die deutschen Nuklearphysiker, die lange Zeit einen Forschungsvorsprung vor den USA hatten, ausgerechnet an der Entwicklung jener Waffe gescheitert sein sollen, die bei einem Einsatz dem Krieg mit Sicherheit einen anderen Verlauf gegeben hätte: der Atombombe.

Alle genannten Bücher sind entweder in der Verlagsgesellschaft Heinrich Jung (Zella-Mehlis/Meiningen) oder im CTT-Verlag (Suhl) erschienen und im Buchhandel erhältlich.

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. Mai 2000

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