Hell wie hundert Blitze – vom 11.08.2003
Spinner und Schatzsucher überlaufen das thüringische Jonastal. In den Stollen eines zerstörten Führerhauptquartiers vermuten sie das Bernsteinzimmer, Kunstschätze und Hitlers erste Atombombe.
Es gibt Tage, an denen rauben die Geheimnisse des Dritten Reichs dem Hauptmann Andreas König noch den letzten Nerv. Immer wieder klingelt an solchen Tagen das Telefon: Entweder ist dann einer von Königs Wachdienst dran, weil eine Streife einen weiteren dieser Schatzsucher aufgegriffen hat. Oder es rufen zunächst noch vernünftig klingende Menschen an, die sich mit König dann dringend über jene Atombombe unterhalten wollen, die unter seinen Füßen vergraben liege.
Der geplagte Offizier ist Kommandant des thüringischen Truppenübungsplatzes Ohrdruf, und auf dessen Gelände liegen Teile eines besonders verwunschenen Areals: des Jonastals. Die wilde Schlucht beflügelt wie kaum ein anderer Ort Deutschlands die Phantasie einer internationalen Gilde von Verschwörungstheoretikern und Schatzsuchern. Sie vermuten an dem magischen Ort unermessliche Kunstschätze, das Bernsteinzimmer, riesige Hallen mit einsatzbereiten Panzern – und die erste deutsche Atombombe samt gewaltiger Trägerrakete.
In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs nämlich hatten Hitlers Getreue im Jonastal tatsächlich ein komplexes Netz aus unterirdischen Gängen und Gewölben anlegen lassen. Es sollte das letzte Führerhauptquartier werden. Tausende KZ-Häftlinge mussten 25 Stollen in die Muschelkalkfelsen treiben. Dazu bauten sie auch einen Bunker, mehrere Stockwerke tief, der, voll gestopft mit Technik, als Nachrichtenzentrale dienen sollte.
Von hier aus wollten die Top-Nazis ihren letzten Kampf kämpfen – und so wurden sie denn auch nahezu alle in ihren letzten Wochen mal in der Nähe gesichtet, als das Geheimprojekt „S III“ erste Baufortschritte zeigte: Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Heinrich Himmler.
Doch die finale Schlacht um die Höhlen-Festung im Jonastal fand ohne Hitler und seine Paladine statt. Und die siegreichen Alliierten sorgten dafür, dass der Mythos um das Höhlensystem so richtig gedeihen konnte. Unterlagen von US-Militärs, die das Tal 1945 durchkämmten, will Washington noch Jahrzehnte unter Verschluss halten. Die Sowjetarmee, die das Gelände von den Amerikanern übernahm, erklärte es sofort zum Sperrgebiet und nutzte es dann als Truppenübungsplatz – den die Bundeswehr nach der Wende übernahm.
Mangels harter Informationen hangeln sich die Schatzsucher der Moderne, über das Internet bestens verbunden, umso lustvoller an spärlichen historischen Quellen und geheimnisvollen Zeitzeugen entlang. Immer wieder neue Bücher heizen die Abenteuerlust weiter an. Die Folge ist der helle Wahnsinn im beschaulichen Tal: Fast an jedem Wochenende fallen Hobbyforscher in die Region ein, ausgerüstet mit Metallsonden, Satelliten-Navigationsgeräten und Grabwerkzeugen – natürlich illegal: Wer im Sperrgebiet erwischt wird, muss Bußgeld zahlen.
Hauptmann König hat Dokumente des Bunker-Wahns zwischen Aktendeckel gepresst und nennt das Konvolut aus Papieren über die Geheimnisse des Tals „meine X-Akte“. Der Herr über 5000 Hektar Gelände hat es am Anfang durchaus noch mit Argumenten versucht. Als ein paar Schatz-Freaks eine rötlich-orange Wolke über dem Tal sahen und glaubten, da würde jemand mit Hitlers geheimen Flugmaschinen durch die Gegend karriolen, ordnete der Kommandant das Phänomen doch zielsicher einem Testschießen mit Bodenleuchtkörpern zu. „Das waren Reflexionen am Himmel.“
Doch dem armen Mann glaubt keiner der Glücksritter. Deshalb mag König sich auch nicht mehr mit jedem Spinner auseinander setzen: Auf die Erkenntnisse eines Hobbyforschers etwa, der 480 bis 520 Kampfpanzer in unterirdischen Hallen geortet haben will, mochte er erst gar nicht eingehen.
Pendel- und Wünschelrutengänger waren schon auf dem Platz, ein Tornado-Aufklärer hat darüber seine Kreise gedreht, die Gamma- und Beta-Strahlung wurde gemessen. Nur gefunden wurde nichts.
Zumindest nicht von Bundeswehrexperten. Weil König ein offener Mann ist, ließ er eine Hamburger Erkundungsfirma aufs Gelände, die anhand von Luftbildern die Umrisse einer riesigen Rakete im Boden ausgemacht haben wollte. Die Hamburger warnten vor einer möglichen Atomexplosion – auch wenn von der Rakete dann beim besten Willen nichts zu sehen war.
Selbst Tourismusfirmen haben Königs militärischen Sperrbereich für sich entdeckt – fast wie in Amerika die berühmte Area 51, über der Freaks immer wieder, wie auch im Jonastal, seltsame Flugkörper sichten wollen. Ein sächsisches Reisebüro warb für zweitägige Exkursionen ins Jonastal unter der Rubrik „Flugscheiben“. Angeboten wurde die Begehung „in Begleitung eines Insiders“. Kaum verwunderlich, dass Kommandant König schon einen ganzen Kleinbus mit Touristen auf seinem schwer munitionsverseuchten Gelände aufbrachte. Die Neugierigen hatten die Absperrungen einfach umfahren.
Manchem konnte der Offizier aber auch weiterhelfen – etwa einem jungen Mann, der bei einer illegalen Erkundungstour in einem alten Stollen tief unter Tage Motorgeräusche ausmachte. Völlig verstört riskierte er das Bußgeld und informierte die Bundeswehr. König konnte die Lärmquelle rasch identifizieren: Es war mitnichten ein überlebender Nazi-Boss, der unter Tage seinen Panzer spazieren fuhr, sondern der Bagger in einem benachbarten Kieswerk.
Kaum zur Vernunft zu bringen sind freilich die selbst ernannten Atomexperten. Da ist etwa Thomas Mehner, Vorstandsmitglied der so genannten Jonastal-Gesellschaft und Autor des Buchs „Das Geheimnis der deutschen Atombombe“. Mehner ist überzeugt, dass die Deutschen und nicht die Amerikaner die erste Atombombe bauten. Und dass die noch immer unter thüringischer Erde schlummern könnte.
Der Autor schlängelt sich geschickt durch belegbare Fakten, um sie dann mit reichlich Interpretation anzufüttern. So gilt als sicher, dass in den vierziger Jahren Atomforscher um Kurt Diebner und Walther Gerlach im benachbarten Stadtilm ein Forschungslabor unterhielten, um der Atomenergie auf die Spur zu kommen.
Auch ließen DDR-Offizielle 1962 Zeitzeugen vernehmen, die im März 1945 Atomtests auf dem Übungsplatz gesichtet haben wollen. So versicherte Cläre Werner, inzwischen verstorbene Verwalterin der benachbarten Veste Wachsenburg, sie habe am 4. März 1945 gegen 21.30 Uhr ein gleißendes Licht gesehen, hell „wie Hunderte von Blitzen“ – innen rot, außen gelb. Dann sei eine mächtige Sturmböe über die Berge gefahren. Am nächsten Tag hätten sie und andere Menschen in der Umgebung Nasenbluten, Kopfschmerzen und Druck auf den Ohren gehabt. Am 12. März um 22.15 Uhr habe es erneut gekracht.
Was dort explodiert war, fand nie jemand heraus. Doch die Indizien reichen Mehner und Gesinnungsgenossen als Beleg, dass Hitler im Tal an der Bombe bauen ließ – und dass Einzelexemplare womöglich noch dort herumliegen.
Die These beschäftigte neben dem Militärischen Abschirmdienst allen Ernstes auch den thüringischen Staatsschutz. Wochenlang ging ein Ermittler allen erdenklichen Hinweisen nach – ohne Ergebnis.
Auch schon die DDR-Führung kannte die Legenden und ließ ihre Staatssicherheit im Jonastal schnüffeln. Der Stasi-Ermittler Paul Enke etwa verbrachte sein halbes Leben mit der Suche nach dem Bernsteinzimmer, sein Weg führte ihn auch ins Jonastal. Enkes Fazit: Die intensive Suche in Archiven habe Hinweise auf Kunstschätze ergeben, „die von Ostpreußen nach Thüringen verbracht“ wurden. Dabei bringt Enke an zentraler Stelle die Ruine des letzten Führerhauptquartiers ins Spiel.
Gefunden hat der inzwischen verstorbene Stasi-Mann freilich weder die kostspielige Wandverkleidung aus Zarskoje Selo noch irgendetwas anderes, was sich zu Geld machen ließe. Seine Hinweise sorgen jedoch bis heute mit für den Run auf die Stollen im Muschelkalk – der den Freistaat Thüringen schließlich dazu nötigte, Ende 1991 jene Eingänge zumauern zu lassen, die nicht schon von der SS und den Alliierten gesprengt worden waren.
„Selbst Bohrungen in den Stollen haben nichts ergeben“, versichert Dieter Zeigert, Autor des Jonastal-Buchs „Hitlers letztes Refugium“. Zeigert war fünf Jahre lang Kommandant des Truppenübungsplatzes und kennt jeden Stollen und jeden Betonrest, der im Gebiet aus dem Boden ragt. Er glaubt nicht, dass die Gewölbe noch irgendetwas von Interesse enthalten.
Doch auch sein Urteil kann die Geheimnis-Freaks aus Deutschland nicht bremsen. Regelrechte Expeditionen verabreden sich auf der Internet-Seite www.schatzsucher.de – dabei reichen manchen Leuten schon zwei Plastikstäbe, ein Dübel und ein Stück Draht, um Schätze von Weltrang zu finden. Zusammen ergeben sie eine passable Wünschelrute, mit der Martin Stade – Autor des Buchs „Vom Bernsteinzimmer in Thüringen und anderen Hohlräumen“ – gern Geschichtsinteressierte durch das Jonastal führt. Stade, selbstverständlich Beisitzer im Vorstand der Jonastal-Gesellschaft, hat Wissen, das sonst niemand hat.
Auf einem unscheinbaren Parkplatz im Tal etwa schlägt seine Rute regelmäßig aus: Stade glaubt, in den Bunkern unter dieser Stelle habe Hitler Ufo-ähnliche Flugscheiben entwickeln lassen – „im Volksmund Reichssuppenschüssel genannt“. 174 davon wähnt er noch unter der Erde.
Stade glaubt auch, dass des Führers Telefonanlage im Stollensystem noch am Netz hängt. Er ist sogar ganz tief in die Archivalien der Reichspost abgetaucht – und dort will er auch die Nummer gefunden haben. Es ist die 03624-1200500.
Die Nummer ist erreichbar. Nur ist beim Führer dauernd besetzt.
STEFFEN WINTER“(c) Spiegel – Ausgabe 33/2003 am 11. August 2003