Und sie wurde doch gezündet – Hitlers Atombombe – vom 06.03.2005
Quelle: Welt am Sonntag am 06.03.2005
Und sie wurde doch gezündet – Hitlers Atombombe
Hatten die deutschen Kernforscher um Heisenberg die Öffentlichkeit über ihre Rolle während des Zweiten Weltkrieges getäuscht? Das mit Spannung erwartete Buch von Rainer Karlsch legt dies nahe
von Ralf Georg Reuth
Ein greller Blitz, heller als tausend Sonnen, über dem Oderbruch. Im Hypozentrum der furchtbaren Explosion verglühen Tausende russische Soldaten und Dutzende T-34-Panzer. Die Druckwelle reißt noch Kilometer davon entfernt Bäume um und deckt Dächer ab. Es ist dies die achte taktische Atombombe, die Hitler einsetzt. Im Westen ist es bereits gelungen, die Armeen der Briten und Amerikaner hinter den Rhein zurückzubomben. Im Sommer 1945 schlagen die Westalliierten schließlich zurück. Über Magdeburg wird eine Plutonium-Bombe abgeworfen. Allmählich beginnt das ohnehin schon durch den alliierten Luftkrieg zerstörte Deutschland in radioaktivem Niederschlag und Gamma-Strahlung vollends unterzugehen – ein Szenario des Grauens, die Apokalypse, jedoch Gott sei dank nur Fiktion.
Daß diese Fiktion um ein Haar Wirklichkeit geworden wäre, weist nun der Berliner Sozial- und Wirtschaftsgeschichtler Rainer Karlsch in seinem als Sensation angekündigten Buch „Hitlers Bombe“ nach. Laut Karlsch verfügte der Diktator Ende 1944/45 über einen voll funktionsfähigen Atomreaktor. Doch nicht nur das: Unter Aufsicht der SS testeten deutsche Kernphysiker zur selben Zeit auf Rügen und in Thüringen taktische Nuklearwaffen – dieselben Männer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beharrlich abstritten, Hitlers Bombe gebaut zu haben.
Angefangen hatte alles mit Otto Hahns Kernspaltung im Jahr 1938. Als kurz darauf der Franzose Frédéric Joliot entdeckte, daß bei der Uranspaltung Neutronen frei werden und sich damit die Möglichkeit einer Kettenreaktion ergab, erkannten die Atomforscher schnell, welch technisches Potential in der Nutzung ihrer Forschung – vor allem auch für den militärischen Gebrauch – liegen würde. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begannen die Wissenschaftler weltweit über die Möglichkeiten der Entwicklung einer neuen Waffe mit nie dagewesener Vernichtungskraft zu forschen.
In Hitlers Deutschland rief das Heereswaffenamt kurz nach dem Überfall auf Polen noch im September 1939 die namhaftesten aus dem durch die Emigration der jüdischen Wissenschaftler stark dezimierten Kreis der deutschen Kernphysiker zusammen. Gegründet wurde der „Uranverein“ als kriegswichtiges Projekt mit höchster Geheimhaltungsstufe. Leiter des Forschungsverbunds, der sich mit dem Bau der deutschen Atombombe beschäftigen sollte, war der Leipziger Professor Werner Heisenberg. Ihm zur Seite stand der damals nicht einmal 30 Jahre alte Carl Friedrich von Weizsäcker – der Bruder des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker – , der am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut arbeitete.
Bedenken soll es kaum gegeben haben, als man im September 1939 in Berlin zusammenkam. Der Kernphysiker Erich Bagge erinnerte sich später, daß alle gesagt hätten, „daß man es machen muß“. An zwanzig deutschen Forschungsinstituten wurde fortan von Heisenberg, Weizsäcker, Hahn, Bagge, Walther Gerlach, Max von Laue, Karl Wirtz und anderen an der Bombe gearbeitet. Bis Herbst 1940 lagen erste Ergebnisse vor, die zwei Wege zur Erreichung des Ziels wiesen. Zum einen handelte es sich um die Isotopentrennung zur Gewinnung von Uran 235. Im Labor war diese in der Größenordnung von millionstel Gramm geglückt, für die Bombe brauchte man allerdings mehrere Kilo dieses Stoffes.
Der zweite Weg führte über den Bau eines Kernreaktors zur Gewinnung von waffenfähigem Plutonium. Diese vielversprechende Möglichkeit ging auf die Ideen von Heisenbergs rechter Hand, von Weizsäcker, zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg räumte dieser ein: „Ja, ich hatte die Plutonium-Idee.“ Dem Buch von Rainer Karlsch zufolge sollen bereits 1941 die entsprechenden Patente für eine Plutonium-Bombe formuliert und eingereicht worden sein.
Doch nicht dies, sondern die Tatsache, daß es Karlschs Forschungen zufolge gegen Kriegsende Versuche mit der deutschen Bombe gegeben hatte, verlangt nach einer Korrektur der Rolle der deutschen Atomwissenschaftler. Weizsäcker und andere erklärten nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder, die Kernphysiker hätten frühzeitig von dem Bombenprojekt Abstand genommen. Als Grund gaben sie an, sie seien zu der Erkenntnis gelangt, daß die Entwicklung der Bombe ohnehin nicht mehr während des Krieges zu realisieren gewesen sei. „Wir waren heilfroh“ – schrieb Weizsäcker -, „als wir merkten, daß wir’s nicht konnten.“
In neuem Licht erscheint damit auch Weizsäckers Schilderung seiner gemeinsamen Reise mit Heisenberg zum dänischen Kernforscher Niels Bohr im Oktober 1941. Sie (Weizsäcker und Heisenberg) hätten Angst gehabt, die Engländer oder Amerikaner könnten schneller die Bombe bauen als die Deutschen. „Daraufhin sind wir gemeinsam zu Bohr gefahren. Heisenberg wollte ihn auffordern, den Physikern in England und Amerika nahezulegen auf die Atombombe zu verzichten“, erklärte Weizsäcker zuletzt 2002. Er reagierte damit auf die soeben bekanntgewordenen Briefentwürfe Bohrs aus den fünfziger Jahren, in denen der Däne noch einmal auf den Besuch der deutschen Wissenschaftler eingegangen war und Weizsäckers Darstellung nachhaltig erschüttert hatte.
In Bohrs Schreiben hieß es an die Adresse Heisenbergs gewandt: „Du sprachst in vagen Wendungen, die mir den klaren Eindruck vermitteln, daß man in Deutschland unter deiner Leitung alles tat, um eine Atombombe zu entwickeln.“ An anderer Stelle schrieb der Däne: „Insbesondere beeindruckte mich (…) sehr stark Eure klare Überzeugung, daß Deutschland gewinnen wird und wir nicht so dumm sein sollten, weiter auf einen anderen Ausgang zu hoffen.“
Weizsäckers Beteuerung, über Bohr so etwas wie ein Moratorium zwischen Deutschen und Angelsachsen in Sachen Atombombe erreichen zu wollen, erscheint jedoch allein schon aufgrund des Zeitpunkts der Reise fragwürdig. Im Oktober 1941, als beide Forscher in Kopenhagen weilten, gebot Hitler über ganz Europa, und die Deutschen setzten darauf, daß nach dem bald erwarteten Sieg über die Sowjetunion England einlenken und der Krieg ein rasches Ende finden würde. Warum sollten die Wissenschaftler gerade jetzt in eigener Verantwortung gehandelt haben?
Hätten Heisenberg und Weizsäcker tatsächlich mit Bohr über ein Moratorium sprechen wollen, hätten sie sich moralisch in geradezu übermenschlichen Sphären bewegt. Dies taten sie jedoch wie die meisten ihrer prominenten Zeitgenossen nicht. Sie waren vielmehr anfällig für Privilegien, die ihnen Hitlers Staat reichlich gewährte. Diesen Privilegien und ihrer patriotischen Grundgesinnung war es dann auch zuzuschreiben, daß sie im Nationalsozialismus weniger ein Terrorregime sahen als die Kraft, die Deutschland nach den Demütigungen des verlorenen Ersten Weltkrieges seine Ehre wiedergegeben hatte. Ihre Zustimmung zum Dritten Reich endete daher gewiß nicht auf dem Höhepunkt Hitlerscher Macht.
Warum hatte der junge Kernphysiker auch ausbrechen sollen aus einem Regime, in dem der eigene Vater als Staatssekretär des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop steile Karriere gemacht hatte – freilich auch zum Preis der Verstrickung. Ernst von Weizsäcker kannte Teile der Einsatzgruppenberichte mit ihren Erschießungszahlen. Er kannte das Protokoll der Wannseekonferenz vom Januar 1942, in dem die bürokratische Abwicklung des Völkermordes zwischen den verschiedenen Stellen festgelegt worden war. Und dennoch war er genausowenig ein überzeugter Nationalsozialist wie sein Sohn Carl Friedrich. Dieser war gleichwohl noch im britischen Godmanchester bei Cambridge, wo er nach Kriegsende zusammen mit den anderen führenden deutschen Atomphysikern in einem völlig „verwanzten“ Landhaus namens Farm Hall interniert worden war, auch stolz auf seine geleistete Arbeit. Als die Deutschen am 6. August 1945 mit dem amerikanischen Atombombenabwurf über Hiroshima konfrontiert wurden, fühlte sich auch Weizsäcker als Wissenschaftler gekränkt. „Die Gäste waren außerordentlich verblüfft“, faßte einer ihrer britischen Betreuer eines der zahlreichen Abhörprotokolle zusammen. Hatte man bisher gemeint, im Wettlauf um die Nutzung der Uran-Kernspaltung die Nase vorn zu haben, so habe man nun zur Kenntnis nehmen müssen, daß man geschlagen worden sei – knapper freilich, als die Briten annahmen.
Dies hatte jedoch – wie Karschs Forschungen jetzt nahelegen – nicht an den deutschen Wissenschaftlern gelegen, wie sie im nachhinein hatten glauben machen wollen. Der Wettlauf um die Bombe ging vielmehr verloren, weil braune Ideologen Ressentiments gegenüber der als „undeutsch“ geltenden Kernforschung hatten. Auch hatte man bei den obersten Stellen des Reiches lange Zeit die Bedeutung der Bombe nicht erkannt, wie Heisenbergs Auftritt vor dem obersten Befehlshaber der Luftwaffe, Erhard Milch, und vor Rüstungsminister Albert Speer im Juni 1942 deutlicht machte. Milch hatte bei der Gelegenheit gefragt, wie groß eine Bombe sein müsse, mit der man eine ganze Stadt zerstören könne, und Heisenberg antwortete: „Etwa so groß wie eine Ananas.“ Erst zu diesem Zeitpunkt soll Speers Interesse erwacht sein. Er fragte, was Heisenberg für diese Forschung benötigte, und dachte dabei an eine Summe von 100 Millionen Mark als angemessenen Betrag. Entweder Heisenberg oder sein Stellvertreter von Weizsäcker erwiderte – so ist es überliefert -, daß man schon vor langer Zeit ein Baukontingent von 15 000 Reichsmark angefordert habe. Milch und Speer hätten einander fassungslos angeschaut, und der Rüstungsminister hätte sogleich diese Summe bewilligt.
Doch auch jetzt ging es eher schleppend weiter, denn die zunehmend schwerer lastende Geldknappheit zwang die Verantwortlichen in der Reichsführung, Prioritäten zu setzen, und danach rangierte die Bombe hinter Entwicklung und Bau von Raketen und Strahljägern. Erschwert wurde die Arbeit zudem dadurch, daß die Anlagen der Norsk Hydro im norwegischen Rjukan nicht die entsprechenden Mengen schweren Wassers liefern konnten, das neben dem Uran zum Betreiben eines Kernreaktors erforderlich war. Britische Sabotagekommandos und Angriffe der Royal Air Force brachten die dortige Produktion Ende 1943 nahezu zum Erliegen. Gleichwohl wurden die Versuche für den Bau einer „Uranmaschine“, wie der deutsche Kernreaktor genannt wurde, mit den vorhandenen Mengen schweren Wassers zunächst in Berlin, später im württembergischen Haigerloch fortgesetzt.
Daß mit Hochtouren an Hitlers Bombe gearbeitet wurde, behielten die deutschen Atomphysiker für sich – auch noch als Otto Hahn, der sich nach dem Abwurf der Hiroshima-Bombe am Tod von Hunderttausenden mitschuldig fühlte, Heisenberg in Farm Hall aufforderte, er könne jetzt doch getrost „auspacken“. Dieser und seine Mitarbeiter blieben jedoch bei ihrer Linie: Hitlers Bombe „nein“ – Kernforschung „ja“. Zu letzterer erklärten sie, daß sie mit begrenzten Mengen schweren Wassers die Versuche bis zuletzt fortgeführt hätten. „Gegen Ende des Krieges waren diese Arbeiten so weit gediehen, daß die Aufstellung einer energieliefernden Apparatur (gemeint ist ein Kernreaktor) wohl nur noch kurze Zeit in Anspruch genommen hätte.“
Tatsächlich aber war noch im Jahr 1944 bei Berlin ein kleiner Reaktor fertiggestellt worden, mit dessen Hilfe waffenfähiges Material produziert und auch getestet wurde, wie Karlsch jetzt in seinem Buch schreibt. Bei der Entwicklung der deutschen Atomphysiker soll es sich um eine sogenannte „Dirty Bomb“ gehandelt haben, um eine Art taktische Atombombe, die nicht annähernd die Größe der Hiroshima-Bombe hatte. Sie bestand aus etwas nuklearem Material, das mit einer großen Menge konventionellem Sprengstoff umhüllt worden war. Ihre Zerstörungskraft muß die Forscher überrascht haben, kamen doch bei einer Probezündung mehrere hundert Kriegsgefangene und Häftlinge ums Leben.
Für eine industrielle Produktion freilich blieb keine Zeit mehr, denn schon wenige Tage nach dem Test in Thüringen nahmen Spezialeinheiten von Pattons US-Armee die Atom-Forschungsstätten in Stadtilm und Ohrdruf in Besitz. Der Kernphysiker Kurt Wirtz, meinte dann auch zu Weizsäcker, der laut Abhörprotokoll in der britischen Internierung geäußert haben soll, „mit ein wenig Glück hätten wir im Winter 44/45 fertig sein können“, daß dies auch nichts mehr genutzt hätte. Auch mit der Bombe hätte Deutschland die Welt nicht erobert, statt dessen hätten die Angelsachsen ihre Bombe auf uns abgeworfen.
-Rainer Karlsch: „Hitlers Bombe“, DVA, 24,90 Euro, Erscheinungstermin: 14. März 2005
Artikel erschienen am 6. März 2005