Schatzsuche in Hitlers thüringischen Rüstungswerken – vom 24.06.2005
Quelle: Neue Züricher Zeitung, NZZ 24.06.2005 „Spektrum Deutschland“
Unterwelten eines untergehenden Regimes
«Schatzsuche» in Hitlers thüringischen Rüstungswerken
von Axel Vogel*
Thüringens Boden ist gespickt mit Stollen, in welche die Nazis in den letzten Kriegsjahren zunehmend Kunstschätze, vor allem aber auch Rüstungsbetriebe verlagerten. Eine der geheimnisvollsten Anlagen ist das Jonastal, wo Tausende von KZ-Häftlingen zum Bau eines Stollensystems eigesetzt wurden. In einem Subaru mit Bochumer Kennzeichen rumpelt Joachim Dickten mit einem Berliner Freund über einen Feldweg tief in der thüringischen Provinz. Im dichten Grün des idyllischen Jonastales zwischen Crawinkel und Arnstadt schlagen sich Hobbyforscher vis-ä-vis des markanten Biensteinkopf-Massivs zu FUSS ins Dickicht. Dort vermuten und finden sie Betonfundamente, längst vergessen von der Zeit. Auf den Sockeln ruhten Kompressoren, die vor über 60 Jahren eine am Berghang gelegene Grossbaustelle mit Druckluft versorgten. KZ-Häftlinge trieben damals mittels «Salzgitterladern», Loren mit Schaufeln, 25 Stollen in den Biensteinkopf. Die derweil verschüttete und zugemauerte Anlage ist nur eine von vielen in Thüringen, deren Überreste via Internet organisierte Schatzsucher und Geschichts-Freaks wie Dickten und Konsorten selbst 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in ihren Bann ziehen.
Stoff für Mythen
Die Unterwelten bieten Stoff für Mythen. Die oft kilometerlangen Stollen dienten den Nazis nicht nur als Lagerstätten für Kulturschätze; hier entstanden auch jene Waffen, die den erhofften «Endsieg» bringen sollten. Kaum ein Objekt erfreut sich solcher Aufmerksamkeit wie die Anlage im Jonastal, über deren Zweck bis heute gerätselt wird. Einzelne Forscher, die vor Ort so etwas wie ein deutsches «Manhattan-Projekt» vermuteten, fühlen sich durch das neue Buch des Wirtschaftshistorikers Rainer Karlsch bestätigt: Karlsch behauptet, dass NS-Wissenschafter auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf, der einen Teil des Jonastales umfasst, eine Art taktischer Kernwaffe gezündet hätten. Auch wenn das die Fachwelt bezweifelt, bleibt die Tragik der Unterwelten gross Die Verlagerung vitaler Bestandteile eines untergehenden Regimes kostete Tausende von KZ-Häftlingen das Leben – und das unter den Augen der deutschen Bevölkerung. Immer wieder treibt es Dickten zu den lange Zeit vergessenen Unterwelten Thüringens, die seit der Wende ungeahnten Zulauf aus allen Teilen Deutschlands erfahren. Dabei waren nationalsozialistische Unterwelten einst in ganz Europa entstanden. Angesichts des seit 1943 massiert geführten Bombenkriegs der Alliierten gegen das Dritte Reich befahl Hitler die unterirdische Verlagerung von Kunstsammlungen-, Rüstungsanlagen und Waffensystemen im grossen Stil. Die Organisation Todt wie auch die SS bauten etliche vorhandene Bergwerke zwischen Cherbourg, Budapest und Bergen aus beziehungsweise stampften neue Anlagen aus dem Boden. Ab 1944 spielte das zentral gelegene Thüringen angesichts der näher rückenden Fronten als letzter «Schutz-und Trutzgau» eine zentrale Rolle. Kunstgegenstände, Beutegut sowie Gold und Devisen wurden in alte Stollen wie die des verzweigten Kalibergwerks Kaiseroda der Wintershall AG bei Merkers eingelagert, wohin die Reichsbank 1945 ihre Gold- und Devisenvorräte transportierte. Zudem verlegten die Nazis Stäbe und Entwicklungsabteilungen für Hochtechnologie sowie ganze Zweige geheimer Rüstungssparten in die Thüringer «Igelstellung». Als eine der ersten Massnahmen lief die unterirdische Produktion der A4-Rakete (V2) im sogenannten Mittelbau-Dora bei Nordhausen an. Die Anlage Mittelbau-Dora wirkte fortan als Massstab und Magnet gleichermassen. Neben der Raketenproduktion – so entstanden im thüringischen Lehesten in Schieferbrüchen Prüfstände für VWaffen – verlagerte ab Frühjahr 1944 auch der neu gebildete «Jägerstab» die Luftrüstung unter Tag. In Kahla bei Jena liessen die «REIMAHG-Werke» seit April 1944 in einer Porzellan-Sandgrube die grösste Anlage in Thüringens Boden bauen. Unter dem Tarnnamen «Lachs» trieben rund 3000 Deutsche und 15 000 ausländische Zwangsarbeiter in 11 Monaten 15 Kilometer Stollen für die Produktion des hochmodernen Düsenjägers Messerschmitt Me-262 in den Berg. Hinzu kamen unter der Agide des «Geilenbergstabes» im Sommer 1944 Projekte der Mineralölindustrie.
Dem Berliner Historiker und Fachbuchautor Michael Foedrowitz, der an einem umfassenden Werk über die unterirdische Verlagerung deutscher Rüstungs- und Kulturgüter arbeitet, erscheint es als Segen, dass Rüstungsminister Speer laut seinen Recherchen Hitlers Verlagerungsbefehl nur zögerlich umsetzte. Bei einer konsequenten Realisierung der Untertage-Produktion von Düsenjägern und synthetischem Benzin wäre das Kriegsende möglicherweise um viele Monate hinausgezögert worden.
Ohrdruf im Mittelpunkt
Dass in thüringischen Stollen an weiteren Hochtechnologiewaffen sowie an der Energieerzeugung nach Tesla-Prinzipien, Hochfrequenztechnik oder gar Atomprojekten wie der atomar bestückten «Amerika-Rakete» gebaut wurde, behaupten einige Autoren seit Jahren. Als «Area51» gelten vor allem die 25 Stollen im Jonastal, die zusammen rund 2 Kilometer lang waren und von mindestens 20.000 Häftlingen in den Muschelkalk geschlagen wurden. Dazu beigetragen haben mag, dass das «S III» (Sonderbauvorhaben Jonastal) getaufte Projekt unfertig blieb. Erst wenige Monate vor Kriegsende, im November 1944, hatte der als verschollen geltende Befehlshaber über alle deutschen Hochtechnologieprojekte und Untertage-Verlagerungen, SS-Obergruppenführer Hans Kammler, die Anlage in Auftrag gegeben. Bis heute fehlen die kompletten Baupläne, die Aufschluss geben könnten. Da das Jonastal wie der Truppenübungsplatz Ohrdruf zum Projekt «Olga» (Deckname für ein geplantes Führerhauptquartier) gehörten, scheint der oft geäusserte Rückschluss auf einen letzten Zufluchtsort für militärische Stäbe naheliegend. Dafür spricht, dass bereits 1937 der Bau einer modernen unterirdischen Nachrichtenzentrale, des «Amtes 10», auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf begonnen worden war. Einige Publizisten wie Thomas Mehner gehen jedoch davon aus, dass dort Atomwaffenforschung betrieben wurde, initiiert von der SS wie auch von der Reichspostforschungsanstalt, welche in der Forschung bis dahin nur eine Nebenrolle gespielt hatte. «S III» sei nur eine von mehreren unterirdischen Anlagen rund um den 1906 gegründeten Truppenübungsplatz Ohrdruf gewesen, die man später gesprengt habe, glaubt der umstrittene Autor aus Zella-Mehlis.
Die These von den Atomwaffen
Mehner stützt sich auf Zeitzeugen, amerikanische Quellen sowie Darstellungen eines neuen Boden-Radars, das weitere Hohlräume im Biensteinkopf ausfindig gemacht haben soll. Dass die Tunnelwelt möglicherweise grösser war als bekannt, lässt die grosse Anzahl der eingesetzten Häftlinge vermuten. Für den Bau der bekannten Stollen hätte es nach Meinung von Bergbauexperten nicht Tausender, sondern nur einiger hundert Häftlinge bedurft. Auch die Frage, warum die SS ausgerechnet die Region Arnstadt so zäh gegen die US Army verteidigte, wird als relevant betrachtet. Neue Nahrung bekommt die These deutscher Atom- und Geheimwaffen im Jonastal durch das Buch von Rainer Karlsch. Der Historiker glaubt, mit Hinweis auf neue sowjetische Quellen und auf Bodenproben den Test einer mittels Hohlladung gezündeten Mini-Kernwaffe auf dem Truppenübungsplatz am 3. März 1945 nachweisen zu können. Nicht von ungefähr habe die wenig beachtete Gruppe von Atomforschem um Kurt Diebner ihr letztes Labor in einer Schule im benachbarten Stadtilm eingerichtet gehabt. – Karlschs quellenmässig schwach gestützte These von «Hitlers Bombe» (so der Buchtitel) erntete zumeist Ablehnung, und auch der Historiker Foedrowitz verweist auf die dürftige Faktenlage. Gleichwohl hält er angesichts immer noch verschlossener Archive eine Neubewertung für möglich; eine unterirdische Rüstungsanlage im Jonastal sei denkbar. Dass am Ende eine Atomwaffenproduktion nachgewiesen werden könnte, ist für ihn allerdings ebenso unvorstellbar wie ein Sensationsfund nach Art des Bernsteinzimmers. Überhaupt sieht Michael Foedrowitz die nationalsozialistischen Unterwelten durch den barbarischen Einsatz der KZ-Häftlinge längst entzaubert. Es sei ein Paradox, dass die Nazis mittels mittelalterlicher Methoden wie «Tod durch Arbeit» Hightech-Rüstung produzieren liessen, meint der Historiker. Allein Bau und Betrieb der 25 von ihm für sein neues Buch «Das unterirdische Reich» untersuchten Anlagen hätten über 100 000 Tote gefordert. Die schreckliche Bilanz kennen natürlich auch die ungezählten Hobbyforscher, die unverdrossen weiter nach Stolleneingängen und anderen Hinweisen auf die Unterwelten fahnden. Die ungebrochene Faszination, die vor allem «S III» auf Tunnelgänger wie Dickten ausübt, lässt sich nur schwer in Worte kleiden. Wohl hat es damit zu tun, dass es ein besonderes Gefühl sei, an einem Ort zu stehen, in dem 60 Jahre niemand mehr gewesen sei, wie Dickten sagt. Gerade im Jonastal glaubt er felsenfest an Überraschungen. Er sei sicher, dass man in einigen Jahren etwas finden werde.
Verschüttete Eingänge: Ein von den Nazis errichtetes weitläufiges Bunker-und Stollensystem durchzieht das Jonastal in Thüringen. (Bild Visum)
* Der Autor ist freier Journalist in Bonn.