Zwischenstation auf einer Odyssee der Leiden – vom 12.10.2005
Quelle: Suttgarter Zeitung Online am 12.10.2005
Zwischenstation auf einer Odyssee der Leiden
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Die Ermittlungsakten belegen: viele Häftlinge des Konzentrationslagers Echterdingen hatten zuvor die Hölle von Auschwitz überlebt
FILDERSTADT. Bisher hatten die meisten der 600 Häftlinge des KZs Echterdingen keinen Namen und keine Geschichte. Dabei existieren Protokolle von zwölf Überlebenden. Die StZ hat sie ausgewertet und dokumentiert hier erstmals Lebensläufe. Die Männer haben Grauenvolles erlebt.
Von Thomas Faltin
Wenn ein Mensch sterben muss, besteht der letzte Wunsch oft darin, dass etwas von ihm bleibe, und sei es nur sein Name in der Erinnerung der Menschen. Yad Vashem, die zentrale Dokumentationsstätte des Holocaust in Jerusalem, hat diesen Wunsch zum Leitmotiv erhoben – und bislang drei Millionen Namen und Schicksale von ermordeten und verhungerten Juden gesammelt, auf dass sie im Gedenken der Menschheit fortbestehen, als Mahnung und Würdigung.
Im Kleinen geschieht dies nun auch für die 600 Häftlinge des Konzentrationslagers Echterdingen. Bis zur Entdeckung des Massengrabs am Flughafen Stuttgart am 19. September kannte man gerade 22 von 600 Häftlingsnamen und keine einzige Lebensgeschichte. Doch allein in den seither vergangenen drei Wochen sind die Namen von 78 Männern hinzugekommen. Un d es hat sich herausgestellt, dass die zentrale Quelle zum KZ Echterdingen, die Ermittlungsakte B 162/3955 im Bundesarchiv in Ludwigsburg von 1968, Lebensläufe enthält, die bisher nicht publiziert wurden. In den Konsulaten in Kanada, Israel und den USA erzählten die Häftlinge vom Leidensweg durch die Lager.
Immer und immer wieder bombardierten die Jäger der Alliierten in diesen Nächten des Winters 1944/45 den Stuttgarter Flughafen. Arbeiter mussten deshalb her, möglichst viele und möglichst billige. Sie sollten die Schäden an der Startbahn reparieren, Tarnunterstände für die Flugzeuge bauen und Verbindungsstraßen anlegen, denn man wollte auch die nahe Autobahn als Landebahn nutzen. Entgegen dem früheren Ziel der „Endlösung“ wurden deshalb wieder Juden nach Deutschland gebracht und in den überall vorhandenen Arbeits- und Konzentrationslagern zu Schwerstarbeit bei ständigem Hunger gezwungen. Allein in der Region Stuttgart gab es sechs Lager – in Leonberg und Vaihingen/Enz, in Unterriexingen und Tailfingen bei Herrenberg, in Geislingen und Echterdingen.
Der Hangar, in dem die 600 Häftlinge am südlichen Rand des Stuttgarter Flughafens untergebracht waren, steht heute noch. Dort hatten zuvor Zwangsarbeiter schuften müssen. Nun war es um den 20. November 1944 die erste Aufgabe der Häftlinge, die verlausten Decken und Strohsäcke zu reinigen und 300 Stockbetten aus Holz aufzustellen. Die Männer aus vielen Ländern vor allem Osteuropas dürften sich vorher kaum gekannt haben – sie kamen zwar alle aus dem KZ Stutthof bei Danzig, doch viele waren dort nur wenige Tage oder Wochen gewesen. Erschöpft und krank dürften fast alle gewesen sein. „Es ist ja klar“, sollte der Lagerkommandant René Romann später zu Protokoll geben, „dass kein Kommandoführer die besten Häftlinge abgibt. Die Häftlinge litten an Ruhr. Sie hatten Durchfall. Es waren bereits bei der Ankunft des Transports nicht gehfähige Häftlinge dabei.“
Im Gegensatz zu anderen Lagern war nur der Kommandant ein Angehöriger der SS. Die Wachposten dagegen rekrutierten sich aus Luftwaffenhelfern und Soldaten des Fliegerhorstes am Flughafen. Und: sie durften das KZ nicht betreten. Tagsüber tat nur ein Soldat am Haupttor Dienst, nachts waren alle vier Wachtürme besetzt, und Scheinwerfer suchten den Stacheldrahtzaun ab, der den Hangar umgab. Im Lager verwalteten die Häftlinge sich selbst. René Romann setzte „Funktionshäftlinge“ ein. So kümmerte sich ein Dr. Goldberg aus Krakau um die Kranken, vier Häftlinge standen in der Küche, ein Lagerältester namens Jakob war für Ordnung und Sauberkeit zuständig. Dieser Lagerälteste habe sich aber „unangenehm aufgeführt“, sagte der Häftling Henry Ehrlich später aus.
Ehrlich hatte auch die Todeskartei zu führen. Seine Liste war lang: Seit dem Fund des Massengrabs steht fest, dass in den zwei Monaten bis zur Schließung des Lagers mindestens 119 der 600 Häftlinge starben, an Hunger, Erschöpfung, Ruhr und Fleckfieber. Wie viele der Männer die Befreiung und das Ende aller Qualen erlebt haben, ist ungewiss. Der Insasse Symcha Bornstein spricht davon, dass nach ihrem Abtransport am 21. Januar 1945 von Echterdingen ins KZ Ohrdruf „von den 600 Häftlingen nunmehr noch 250 am Leben“ waren. Von zwölf Echterdinger Überlebenden kennt man die Namen.
Die meisten Häftlinge hatten, als sie in Echterdingen ankamen, bereits eine mehrere Jahre dauernde Odyssee des Leidens hinter sich. Isaak Borenstein, der in Lodz geboren ist, wurde 1941 im Alter von 20 Jahren von den Nazis verhaftet und musste in einem Arbeitslager und auf einem Gutshof schuften – im Sommer 1943 verlegte man ihn nach Fürstengrube, wo Kohle abgebaut wurde. Nach etwa einem Jahr sei er so erschöpft gewesen, dass er mit 46 Männern als arbeitsunfähig nach Auschwitz geschickt wurde – zur Vernichtung. Wie sehr in dieser KZ-Hölle der Kampf um Leben oder Tod einem Lotteriespiel glich, erfuhr auch Borenstein: „Es war ein Zufall, dass unsere Gruppe schon vom Eingang ins Krematorium zurück abgeführt wurde, da ein Transport aus Ungarn gerade ankam und sofort zur Vergasung geführt wurde.“
Borenstein rappelte sich hoch und arbeitete wieder im Lager Birkenau, bis man ihn nach Stutthof und weiter nach Echterdingen verfrachtete. Dass er damals in der Nähe von Stuttgart war, hatte er gar nicht gewusst – zu oft war er kreuz und quer durch Deutschland gekarrt worden. Zuletzt zwangen die Nazis ihn in den Todesmarsch von Buchenwald nach Theresienstadt. „Viele Häftlinge, die nicht mehr gehen konnten, wurden erschossen“, sagt Borenstein. Er erreichte Theresienstadt lebend. Dort wurde er befreit.
Das Martyrium von Henry Ehrlich dauerte sogar fast sechs Jahre. Schon am 6. September 1939 vertrieb die deutsche Armee alle Juden aus den Hauptstraßen von Tomaszow im Süden von Warschau. Alle mussten sich im Getto um die Synagoge ansiedeln, 16 000 Menschen lebten dort in 250 Häusern. Der 25-jährige Ehrlich musste vom ersten Tag an „ohne Bezahlung, aber mit sehr schlechter Behandlung“ bei der Regulierung eines Teiches helfen. Im Herbst 1942 begann die Katastrophe, und trotz des Wissens um die Nazigräuel ist es immer wieder unfassbar, zu welcher Menschenverachtung die deutsche Besatzungsmacht fähig war: Bis auf 850 arbeitsfähige Männer wurde das Getto damals evakuiert, alle wurden nach Treblinka zur Vergasung geschickt. Kleine Kinder wurden unbarmherzig von ihren Eltern getrennt, alte Männer beim leisesten Widerspruch erschossen. Auch Henry Ehrlich erinnert sich an unvorstellbare Verbrechen. So hätten sich die deutschen Posten ein Vergnügen daraus gemacht, scharf von außen in das Getto zu schießen. Und im Frühjahr 1943, zur Zeit des jüdischen Purimfestes, musste sich eine Gruppe von Männern und Frauen nackt ausziehen, und „man jagte die Menschen auf sadistische Weise hin und her und knallte einen nach dem anderen ab“. Henry Ehrlich verlor bei der Deportation nach Treblinka seine ganze Familie. Über Blizyn, Auschwitz, Stutthof, Echterdingen, Ohrdruf, Krähwinkel und Buchenwald gelangte er schließlich nach Theresienstadt, wo auch er am 9. Mai 1945 befreit wurde.
Auch Henry Kluska und Symcha Bornstein haben bei ihrer Zeugenaussage 1968 von schrecklichen Erlebnissen berichtet. Symcha Bornstein war gerade elf Jahre alt, als die Deutschen 1939 nach Tomaszow kamen. Trotz seines Alters hatte Bornstein bereits Zwangsarbeit zu leisten. Und den Tod des Vaters musste er, fast noch ein Kind, mit ansehen. Im Oktober 1940 waren vier SS-Männer in die Wohnung der jüdischen Familie in Tomaszow gekommen, angeblich um nach Waffen zu suchen: „Sie verhörten Vater zwei Stunden lang. Dieses Verhör bestand unter anderem darin, dass sie meinen Vater derart verprügelten, dass er blutig und ohnmächtig im Zimmer lag und einige Wochen darauf an den Folgen dieser Misshandlung starb.“ Die Mutter und eine Schwester sind bald darauf nach Treblinka „ausgesiedelt“ worden, zuletzt kam der Junge ganz allein nach Auschwitz, Stutthof und Echterdingen, wo er im Steinbruch arbeitete. Ob zumindest der Bruder und die zweite Schwester den Naziterror überlebt haben, geht aus dem Protokoll von 1968 nicht hervor.
Wie menschlich oder unmenschlich es im KZ Echterdingen im Vergleich zu anderen Lagern zugegangen war, das ist bis heute die wichtigste unbeantwortete Frage. Den größten Einfluss darauf hatte der Lagerkommandant René Romann als unumschränkter Herrscher der Einrichtung. Doch die Rolle des damals 35-Jährigen bleibt unklar – die Aussagen der Zeitzeugen sind widersprüchlich.
René Romann wurde 1909 im elsässischen Mühlhausen geboren und hat bis 1940 als Sägewerker im heimischen Betrieb und in mehreren Sägemühlen im Schwarzwald gearbeitet. Der Vater von vier Kindern wurde eingezogen und kämpfte an der Nordfront in Russland, bis er als SS-Sturmmann ins KZ Natzweiler und später nach Echterdingen und Geislingen beordert wurde.
In seiner umfangreichen Aussage im Jahr 1968 versuchte Romann das Bild eines humanen Lagerleiters zu zeichnen, der eigentlich selbst Opfer sei: Die Franzosen hätten ihn von 1945 bis 1952 zu Unrecht und ohne Prozess in Haft gehalten. Dabei habe er doch in Echterdingen beispielsweise eine Decke in den 15 Meter hohen Hangar einziehen lassen, damit die Halle beheizt werden konnte. Er habe neue Sanitäranlagen gebaut, eine Krankenstation eingerichtet und im Krankenhaus Esslingen Haferflocken und Medikamente besorgt: „Überhaupt muss ich sagen, dass während der Zeit im Lager Echterdingen der Gesundheitszustand der Häftlinge sich wesentlich gebessert hat.“ René Romann betont sogar, er könne mit gutem Gewissen sagen, dass „kein Häftling erschlagen, exekutiert oder so misshandelt wurde, dass er an diesen Misshandlungen verstorben ist“.
Das Überraschende ist, dass die Häftlinge diese Aussage teilweise stützen. Henry Ehrlich spricht davon, dass die Häftlinge ausreichend zu essen bekommen hätten. Und Isaak Borenstein erinnert sich: der Lagerkommandant „war sehr streng, ich habe aber nicht gesehen, dass er Häftlinge tötete“. Dennoch wird die Glaubwürdigkeit des mittlerweile verstorbenen Lagerleiters seit Entdeckung des Massengrabs am Flughafen heftig erschüttert. Denn neue Zeitzeugen erinnern sich, wie die Häftlinge vor Hunger selbst die Misthaufen in Bernhausen nach Essbarem durchsucht haben. In der Ermittlungsakte ist jetzt zu lesen, dass der Kommandant der Zivilbevölkerung verboten habe, den Häftlingen Brot zuzustecken. Zudem bezeugt Isaak Borenstein, dass Romann durchaus Häftlinge geschlagen habe. Medizinische Hilfe habe es nicht gegeben. Und einmal seien kranke Insassen abends einfach nicht mehr da gewesen, so Borenstein. Tagsüber wollte „seit dieser Zeit niemand im Lager bleiben“.
Klar ist, dass der Kommandant das Ausmaß des Leidens und Sterbens im KZ Echterdingen verharmlost hat. René Romann beteuerte damals, dass im Lager nicht mehr als 30 bis 40 Menschen gestorben seien. Und er gab den Satz zu Protokoll: „Vergrabungen von Häftlingen in der Nähe des Lagers oder des Arbeitsplatzes kamen nicht vor.“ Seit drei Wochen weiß man mit ziemlicher Sicherheit, dass dies die Unwahrheit ist.
Aktualisiert: 12.10.2005, 16:27 Uhr