ARNSTADT – AUS DEN ERINNERUNGEN VON WALTER LIEBMAN – vom 22.04.2004
Arnstädter Stadtecho – Ausgabe 04/2004
AUS DEN ERINNERUNGEN VON WALTER LIEBMAN
…dann sah ich die Geschütze, die Arnstadt unter Feuer genommen hatten
Von Heimatliebe und einer gefährlichen Feind-Radtour im April 1945
Aufmerksame Leser unseres Stadt-Echos werden sich sicher noch an jene Geschichte und Aussagen von Elsbeth Euchler und Heinz Geyer erinnern, welche wir im Zusammenhang mit dem Kriegsende Arnstadt 1945 in unserer März- und Aprilausgabe des vorigen Jahres veröffentlichten. Daraufhin setzte sich mit uns der Sohn von Walter Liebmann, Prof. Dr. Bernhard Liebmann, in Verbindung. Später übergab er uns die persönlichen Aufzeichnungen seines Vaters, wofür wir ihm herzlich Dank sagen. Dabei handelt es sich um die Erinnerungen von Walter Liebmann, die er 1965 zu Papier brachte, und die aus seinem ganz persönlichen Erleben das Kriegsende beschreiben.
Die Aufzeichnungen, wie interessierte Leser schnell bemerken werden, entsprechen den Schilderungen der Aussagen von Frau Euchler und später Herrn Geyer aus Arnstadt. Hier die Zeilen von Walter Liebmann, wie er sie damals – vor nunmehr 39 Jahren -aber 20 Jahre nach dem Kriegsende aufs Papier brachte.
„Die schwäbischen Zeitungen bringen jetzt gern Berichte über die Zeit vor 20 Jahren, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. So mag es vielleicht für die vielen Thüringer in unserem Kreis von Interesse sein, wie sich der Einmarsch der Amerikaner, der dort etwas früher stattfand, in der alten Heimat abspielte. Lassen wir davon einen alten Arnstädter erzählen, der kürzlich sein 80. Lebensjahr vollendet hat. Er schreibt wie folgt: „Zunächst sei bemerkt, dass ich -ohne jüdische Abstammung oder Logenbruder gewesen zu sein -nie der NSDAP angehört habe aus einem Grund, der fast noch schlimmer war als die genannten: Ich hatte mich gleich zu Beginn der Hitlerherrschaft über die kleinen Bonzen lustig gemacht -und das auch noch schriftlich. So war ich wohl zur persona non grata erklärt worden, was sich für meinen Betrieb, einer hundertjährigen Lederhandschuhfabrik, sehr ungünstig auswirkte. Ausgerechnet ein Uhrmacher hatte bei der Kohlenzustellung ein gewichtiges Wort mitzureden. Ihm wollte es anscheinend nicht eingehen, dass eine Fabrik mit eigener Stromerzeugung mehr Kraft benötigte, als eine Taschenuhr, und ich war leichtsinnig genug gewesen, ihn darauf hinzuweisen. Es mögen auch noch andere Gründe für seine Abneigung mitgesprochen haben. So hatte ich zum Beispiel dem „Amt für Schönheit der Arbeit“ versprochen, unsere Gerberei mit wohlriechenden Schlingpflanzen zu überziehen. Jedenfalls kann ich heute froh sein, dass es so gekommen ist. Doch nun zurück zum eigentlichen Thema: An einem Donnerstag, es war wohl der 8. April 1945, hieß es, dass das nur 20 km entfernte Gotha bereits von den Amerikanern besetzt sei. Kanonendonner war vom Westen her schon lange zu hören gewesen. In der ganzen folgenden Nacht lag Arnstadt unter leichtem Artilleriebeschuss. An zwei Stellen waren Brände ausgebrochen, in einem Kohlenlager am Jakobsturm und in der Nähe der alten Bachkirche. Gegen Morgen hörte die Beschießung auf. Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Rathaus, um zu hören, was man dort vorhatte. Der noch junge Oberbürgermeister Huhn war ein vernünftiger Mann, der die Stadt wohl gern übergeben hätte – aber wie? Er war ja von der Nazi-Prominenz abhängig. Ich sah ein, dass hier nichts zu erwarten wäre und beschloss, auf eigene Faust die Verbindung zu den Amerikanern aufzunehmen.
So radelte ich an meinem unversehrten Betrieb vorbei durch die Ohrdrufer Straße aus der Stadt hinaus. Man sah mir verwundert nach. Unser treuer Spediteur Unger, der wohl meine Gedanken erraten hatte, rief mir ein paar aufmunternde Wort zu. Der prächtige Mensch wurde später von der GPU verhaftet und ist elend umgekommen. Auf dem Weg nach Holzhausen traf ich keinen Menschen; Reichswehr gab es in Arnstadt nicht. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen, und ich fühlte mich sicher, dass die Amerikaner auf einen einzelnen Radfahrer nicht schießen würden. In Holzhausen erfuhr ich, dass die feindlichen Geschütze am Weg nach Röhrensee standen, kaum 2 km entfernt. Jetzt galt es, das Rad bergauf zu schieben. Rechts blickte die Wachsenburg über die Schlossleite herüber, weiter im Westen kamen die zwei anderen Gleichen in Sicht – und da waren auch schon rechts und links der Straße die Geschütze, die Arnstadt unter Feuer genommen hatten. Ich bat, mich zum Kommandanten zu führen. Mein etwas eingerostetes Englisch war wieder lebendig geworden (am Ende des 1. Weltkrieges hatte ich in Palästina Dolmetscherdienste getan). Der Stab lag in einem Haus links der Straße nach dem Truppenübungsplatz Ohrdruf. Ich wurde freundlich empfangen und über alles Mögliche ausgefragt, wobei ich betonte, dass ich als Privatperson käme, um meine Vaterstadt vor sinnloser Zerstörung zu bewahren. Offenbar machten meine Worte einen günstigen Eindruck. Ein Offizier brachte mich zu einem Jeep, und wir fuhren nach Gotha zum Abschnittskommandeur, der in einer Seitenstraße nicht weit vom Hotel Mahr in einer vornehm eingerichteten Villa untergebracht war. Dort wurde ich mit Schokolade bewirtet und man sicherte mir zu, dass Arnstadt nicht weiter beschossen werden sollte, falls kein Widerstand geleistet würde. Wahrscheinlich noch am gleichen Abend würde Arnstadt besetzt werden. Wegen der Rückfahrt sollte ich mir keine Sorgen machen, die Straße würde ich ungestört passieren können. So geschah es auch. Der Jeep brachte mich wieder nach Röhrensee. Dort nahm ich mein abgestelltes Fahrrad wieder in Empfang und radelte ungestört nach Arnstadt zurück; die Geschütze waren bereits zurückgezogen. Ich hatte das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben.
In der Ohrdrufer Straße fielen mir Zivilisten mit Gewehren auf, die längs der Häuser nicht gerade sehr mutig westwärts schlichen. Glücklicherweise hielt mich keiner an. Auf dem Rathaus empfing mich OB Huhn privat mit den Worten: Der Krieg ist noch nicht zu Ende, halten Sie sich versteckt, Sie werden gesucht. Diese Warnung hat mir vielleicht das Leben gerettet. Was war geschehen? Ich muss sagen, dass ich es auch nicht gleich erfasste. Die Partei hatte einen sogenannten „Kampf-kommandanten“ bestimmt, der Arnstadt mit dem sogenannten Volkssturm verteidigen sollte. Ich fand Unterschlupf bei meinem lieben Freund Hermann Minner, der leider nicht mehr lebt. Am Montag, den 12. April begann noch einmal eine kurze Beschießung bei der der Kampfkommandant (wohl kein Arnstädter) sein Leben verlor und ein Haus unter der Galerie abbrannte. Dann rückten die Amerikaner ein und der Krieg war für Arnstadt zu Ende“.