Das Interview mit dem ‚Lehrling aus Peenemünde‘ – vom 21.08.2004
Quelle: Zeitschrift 01/2004 der GTGJ „Geheimnis Jonastal“ mit Themen und Forschungsergibnissen rund um das Jonastal
(siehe Online-Shop hier auf dieser Internet-Plattform)
Interview geführt von Roman Heyn
Während der Vereinsfahrt nach Peenemünde vom 20.05. bis 22.05.04 lernte ich Herrn Reinhold Krüger kennen. Seine ruhige, entgegenkommende Art schaffte sofort eine Vertrauensbasis und wir kamen ins Gespräch. Sehr bald merkte ich, dass Herr Krüger über ausgezeichnete Sach- und Fachkenntnisse zur ehemaligen Heeresversuchsanstalt (HVA) Peenemünde und zur Geschichte nach 1945 verfügte. Das allerwichtigste aber ist, Herr Krüger ist Zeitzeuge.
In der Ausgabe August 2003 unserer Vereinszeitung haben wir auf Seite 14 unter dem Titel “Raketenstarts von Polte II“ 2 Bilder von Startvorbereitungen einer A4 (V2) Rakete abgebildet. Die Abbildung hier rechts zeigt die Wachsenburg bei Arnstadt im Hintergrund. Deshalb haben wir an Herrn Krüger die Frage gestellt: Könnte dieses Bild echt oder eine Fälschung sein?
In einem 2.Teil dieses Interviews stellte ich das Problem „Interkontinentalrakete“ in den Mittelpunkt. Es interessierte uns der Entwicklungsstand dieser so genannten „Riesenrakete“, dazugehöriger Triebwerktests und angeblicher Versuchsstarts aus der Sicht eines Zeitzeugen. Ziel war es, der Wahrheit ein Stück näher zukommen und Fakten von Spekulationen rund um das Thema Jonastal zu trennen.
Teil I – Raketenstarts von Polte II
R. Heyn:
Herr Krüger würden Sie sich bitte vorstellen und ihre Verbindung zur ehemaligen HVA-Peenemünde kurz erläutern!
R. Krüger:
Ja, also ich habe 1944 am 03. April in der Heeresversuchsanstalt (HVA) als Lehrling angefangen und einen Großteil oder einen Teil der Versuche mit Raketen hier in Peenemünde miterlebt und dann auch einige A4 (später V2 genannt) Startversuche /Flugversuche gesehen. Ich war bis zum 20. Februar hier in Peenemünde beschäftigt und bin nun seit 1990 in diesem Verein, der sich darum bemüht, Legenden um Peenemünde ein wenig abzubauen und eben die Geschichte von Peenemünde von der Heeresversuchsanstalt ein bisschen aufzuarbeiten.
R. Heyn:
Können Sie etwas zu den beiden Bildern auf Seite 14 unserer Vereinszeitung aus dem Jahr 2003 sagen?
R. Krüger:
Mir liegt hier ein Bild aus einem Informationsblatt des Jonastalvereins vor. Darauf ist ein A4–Gerät bzw. eine Rakete mit der Anspritzung von 1942 abgebildet. Die große Magirusleiter ist oben zum Geräteraum angelegt. Es ist auffällig, dass dort noch der alte Kabelmast steht. Es muss aber beachtet werden, dass ab 1943/ 44 der Kabelmast unten am Schusstisch befestigt war. So – dann ist sehr auffällig, dass ein Mann in die Klappe 15 schaut. Die Klappe 15 befindet sich zwischen der Flosse 1 und 4 bei der Ausführung „A“ der Rakete A4 (V2). Die Ausführung „A“ hatte ja noch den Aluminiumkopf hier in Peenemünde. Der Aluminiumkopf, also das Oberteil des Heizbehälters (Misch- und Brennkammer), war mit dem Unterteil verschraubt und nach einem statischen Feuerversuch/ Brennversuch mussten diese Muttern noch mal nachgezogen werden und damit war dieser Mann hier beschäftigt an der Klappe 15. Von dort konnte er die ganzen Schrauben, die ganzen Muttern übersehen und sie nachziehen und sichern. Bei dem neuen Heizbehälter, der später aus Stahl und mit dem Kopf verschweißt war, konnte die Klappe entfallen. Darum kann es sich hier bei dieser Aufnahme nur um eine Ausführung „A“, die 1942 hier in Peenemünde getestet wurde, handeln.
R. Heyn:
Was wurde später an der Rakete A4 verändert?
R. Krüger:
1945 hatte man nicht mehr diesen hier zu sehenden großen Mast. Ebenfalls hatte man da auch diese schwarz/weiss Anspritzung der Rakete nicht mehr. Ab 01.01.1945 war die Anspritzung grau/grün. Man hatte ja diese schwarz/weis Anspritzung der Rakete damals nur um den Drall des Gerätes zu beobachten und das fiel nachher weg. Die Steuerung der Rakete war dann so weit entwickelt, dass man dieses Problem beherrschte. Darum hat man dann die Rakete einfarbig angespritzt und somit denke ich, dass das hier abgebildete Gerät aus dem Jahre 1942 stammen muss.
Zusammenfassung R. Heyn:
Herr Krüger beweist mit seiner Aussage eindrucksvoll, dass die auf Seite 14 abgebildete A4 Rakete nicht vom 16.03.1945 stammen kann. Weitere Quellen belegen, dass dieses Bild die Startvorbereitung einer A4 anlässlich des Besuches von Hermann Göring in Peenemünde zeigt. Göring ist im unteren Bildrand in seiner weißen Paradeuniform zu sehen.
Teil II – Interkontinentalrakete
R. Heyn:
Können Sie uns ein paar Worte zur sogenannten Großrakete A9/A10 sagen?
R. Krüger:
Also meines Erachtens nach und auch aus allen Quellen die man so studiert hat, war A9/A10 ein Projekt auf dem Reißbrett. Man beherrschte das A4 noch nicht völlig. Es gab immer wieder Luftzerleger (d.h. die Rakete wurde im aufsteigenden oder absteigenden Teil der Flugbahn zerrissen oder explodierte). Daher gab es nur einen geringen Prozentsatz von Raketenaufschlägen mit Spitzendetonation (d.h. die Rakete trifft mit der Spitze = Gefechtskopf im Zielgebiet auf). Es ist daher unmöglich, dass man sich an ein so großes Projekt wie A9/A10 heranwagte, wenn dieses Gerät A4 noch nicht einmal völlig technisch beherrscht wurde.
R. Heyn:
Was meinen Sie mit „nicht völlig beherrscht wurde“?
R. Krüger:
Also aus den Schussberichten, die uns vorliegen, geht hervor, dass sowohl aus Peenemünde als auch aus den beiden im polnischen Gebiet liegenden Abschussbahnen, >Heidelager< und auch >Heidekraut< (wo mehrere hundert A4 verschossen wurden) Versuchsschüsse katastrophal verliefen. Das war selbst ab dem 08. Sept. 1944 noch so, dem ersten Einsatztag dieser Waffe. Man hat nicht mal die Hälfte der Geräte heil nach unten bekommen, d.h. die Rakete als Kompaktlandung (= komplette Rakete mit Gefechtskopf) auf eine Distanz von 200 km ins Ziel gebracht. Man hat dieses technische Phänomen nicht beherrschen können, da sich das Gerät vor der kompakten Landung im absteigenden Ast vorher zerlegte. Also der Luftzerleger passierte entweder schon im aufsteigenden Ast bei Brenndauer bzw. Schub oder es passierte beim Eintauchen in die dichteren Luftschichten – etwa 4000 bis 6000 m über der Erde jeweils aus unbekannten Gründen.
R. Heyn:
Gab es auch Abrisse der Außenhaut der Rakete?
R. Krüger
Ja, Abriss der Außenhaut, aber auch Explosion der Tanks.
R. Heyn:
Waren da noch Reststoffe in den Tanks?
R. Krüger:
Ja. Um diese Abrisse und Explosionen zu vermeiden, hat man nun allerhand versucht. Es gibt da eine ganze Latte von Gegenmaßnahmen, um diesem Phänomen beizukommen. Aber aus diesen Hauptberichten geht hervor, dass von diesen Schussserien mit 10, 20 sogar 32 Schuss mit einer Bestückung für Versuchzwecke eben nur ein geringer Prozentsatz wirklich heil unten angekommen ist.
R. Heyn:
Und da sollen die Entwicklungen und Tests des noch größeren Triebwerks für die Rakete A9/A10 erfolgt sein, wenn es schon bei der Rakete A4 solche Probleme gab? Wie sehen Sie das?
R. Krüger:
Ich bin technisch nicht so bewandert um sagen zu können, wie ein gebündeltes Triebwerk für eine Rakete A9/A10 arbeiten sollte. Also es müssten ja sechs Triebwerke sein, die etwa je 33 Tonnen Schub erzeugen müssten, d.h. man muss aus einer Austrittsdüse diesen gesamten Gasstrahl rausbringen. Das war wohl damals nicht möglich.
R. Heyn:
Ein derartiges Großtriebwerk ist also gar nicht denkbar?
R. Krüger:
Gar nicht denkbar!
R. Heyn:
Also es gibt keine Erkenntnisse darüber, dass hier in Peenemünde an einem Großtriebwerk gearbeitet wurde, dass eine größere Leistung als das der A4 hatte, das irgendwo Tests stattfanden oder es eine Explosion gegeben hätte, die auf einen Startversuch dieser Großrakete hin deuten würde?
R. Krüger:
Nein, über diese Leistung von 25,7 Tonnen, die wir hier in unseren A4 Geräten hatten, ist mir nicht bekannt, dass innerhalb Deutschlands solche größeren Raketentriebwerke überhaupt entwickelt wurden.
R. Heyn:
Also ist praktisch nur die A4 mit ihrer Schubleistung bekannt?
R. Krüger:
Mit der max. Leistung von 25,7t – Ja.
R. Heyn:
Damit ist der Schub der A4 Rakete die Leistung, wo man sagen kann, dass die praktische Erprobung z.B. am 03.10.42 den Beweis erbracht hat, dass es geht.
R. Krüger:
Jawohl und nur dieser Raketentyp wurde eigentlich in großen Stückzahlen verschossen und wie gesagt, die Stadt London haben nicht mal die Hälfte der abgeschossenen Geräte erreicht.
R. Heyn:
Dann sind vorher schon viele Raketen auf dem Marsch z.B. nach England ausgefallen?
R. Krüger:
Viele flogen zu kurz oder zu weit weg vom Ziel oder haben nicht das Stadtgebiet von London erreicht, was eigentlich als Zielpunkt 0101 von den Batterien aus dem holländischen Raum angezielt wurde.
Nachdem die Serie der A4 lief, hatte Peenemünde dauernd nach den Schusserprobungen Probleme zu beheben. Selbst auf dieser Versuchsstrecke gab es Probleme, wenn auch nur bedingt, denn dies war ein Seezielgebiet (von Peenemünde entlang der Küste Richtung Danziger Bucht). Wenn man in ein Seezielgebiet schießt, weiß man nicht genau, kommt das Gerät heil nach unten oder zerlegt es sich vorher. Hat man den Aufschlagpunkt mit Gelbfarbebeutel oder Gründfarbebeutel in See endlich vom Flugzeug aus entdeckt, ist er meilenweit verdriftet.
R. Heyn:
Sie meinen, die Meeresströmung hat den genauen Auftreffpunkt der Rakete verdriften lassen?
R. Krüger:
Jawohl, die Aufschlagstelle verdriftete. Dadurch sieht man nicht die genaue Abweichung, sieht man nicht die genaue Entfernung, sieht man nicht die genaue Schussweite. In Polen wurde von Land zu Land geschossen und da hat man es genau nachmessen können.
R. Heyn:
Jetzt kommen wir noch mal zu dem Problem des Betankens und dem angeblichen Start einer Großrakete im Raum der Polte II bei Rudisleben in Thüringen im Frühjahr 1945. Gehen wir mal hypothetisch davon aus, dass die technischen Möglichkeiten mit einem Flüssigsauerstoffwerk in Rudisleben bei Arnstadt gegeben und auch die entsprechenden Behälter (Tanks) vorhanden waren. Da wäre die Größe der Rakete zum einen und zum anderen hätte es Stunden gedauert, den Brennstoff und dann den Sauerstoff in die Tanks zu pumpen. Es geht ja nicht wegen der Explosionsgefahr, dass Brennstoff und Sauerstoff gleichzeitig in die Tanks gepumpt werden. Dazu kommt die Kälteentwicklung und auch das Verdampfen, welche sich mir als riesige Probleme darstellen.
R. Krüger:
Ja, sicher ist das ein Problem. Zuerst wird in der Regel der Brennstoff getankt. Der Tankvorgang bei einer A4 dauerte hier 25 Minuten.
R. Heyn:
Ja, das waren ungefähr 4 Tonnen.
R. Krüger:
Ja, das waren, wie gesagt, 3.600 bis 3.700 kg. Es gehen max. 3.800 kg in den Tank – je nach Reichweite. Es wurde ja von oben betankt. Die Tankleitung ging am Meilerwagenarm hoch und wurde dann oben angekoppelt. So dauerte die Sauerstoffbetankung weitere 40 Minuten, etwa 4.800 bis 5.000 kg was je nach Reichweite variierte.
Da stellt sich nun schon wieder die folgende Frage: Hatte „AX“ einen gemeinsamen, zentralen Tank oder für jedes der sechs Triebwerke einen Tank? Dann hätte man natürlich mehrere Anschlussstellen für den Tankwagen haben müssen, um die Tankzeit zu verkürzen. Mann hätte hier für eine Tankfüllung, ob Brennversuch oder Flugversuch, eigentlich 7,2 Tonnen flüssigen Sauerstoff benötigt. Bis er zum Gerät (= Rakete) kommt, wäre soviel verdunstet, dass man die 5000 Kilo gerade noch zusammen hatte. Nun kommt es darauf an, wie weit das Sauerstoffwerk und der Eisenbahnanschluss entfernt waren und wie lange die Umtankerei vom Eisenbahnwagen auf den LKW-Tankwagen dauerte? Dazu kommt dann noch die Betankung vor Ort in der Abschussstellung.
R. Heyn:
Hm – Also die Entfernung könnte in Rudisleben zwischen 3 bis max. 4 Kilometer betragen, vorrausgesetzt ein Sauerstoffwerk befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite von der Polte II.
R. Krüger:
Das ist nicht viel. Das war hier auch die Entfernung von der O2-Anlage „Dorf“, wie sie hier genannt wurde, bis zum Prüfstand.
R. Heyn:
Es ist also ein ganzer „Sack“ von Problemen, die sich hier auftun. Sie lassen uns eigentlich von der Theorie über den Begriff „Interkontinentalrakete“ oder über solche Größenordnungen 1945 zu sprechen, von der technischen Seite immer mehr wegrücken.
R. Krüger:
Ich habe schon allein mit dem Ausdruck „Interkontinentalrakete“ so meine Sorgen. Es hätte sich ja nur um dieses Projekt A9/A10 handeln können. A9/A10 ist diese 26 m lange Version, die sie auf dem Reißbrett hatten und die auch der Dornberger in seinem Buch „Die Geheimwaffen Deutschlands“ anspricht – aber eben nur als Entwurf.
R. Heyn:
Das was hier auf dem Reißbrett zu sehen ist und wenn man die Leistung betrachtet, würde ich das als eine erweiterte Mittelstreckenrakete bezeichnen, so wie wir diese heute sehen.
R. Krüger:
Ja, ich kann jetzt nicht aus dem Kopf die geplante Reichweite dieses Gerätes sagen. Es wäre ein unheimlicher Aufwand, für die nur letztlich 750 kg Sprengstoffladung als Nutzlast. Von 1000 kg Sprengstoff als Nutzlast war ja nie die Rede, denn diese „Tausend“ war die Nutzlast einschließlich 250 kg der 6 mm Hülle mit dem schweren Bogen. Diese 1 Tonne Nutzlast musste mit +/- 10 Kilo unbedingt eingehalten werden. Sonst stimmte der Schwerpunkt und all so was nicht. Es blieben jedenfalls immer noch 750 kg Sprengstoff übrig für das Ziel. Aber da man solche Schwierigkeiten mit der Treffgenauigkeit der A4 hatte, ist es eigentlich ein Unding, dass man sich derzeit schon an größere Raketen wie A9/A10 herangewagt hatte. Das war technisch gar nicht möglich und wenn, hätte ja alles von hier kommen müssen, von Peenemünde, denn das war ja die eigentliche Raketenversuchsanstalt.
Zusammenfassung R. Heyn:
Herr Krüger hat mit diesen Aussagen belegt, dass es konkrete Vorstellungen zur Entwicklung einer „Interkontinentalrakete„ gegeben hatte, aber die Kriegslage und Probleme mit der A4 alle Kräfte gebunden hatten und kaum Spielraum für A9/A10 gelassen haben. Diesen Triumph teilten sich dann die Siegermächte nach dem Krieg.
ROMAN HEYN