„Wunderwaffe“: Geheimsache Jonastal
War das Dritte Reich der Atombombe doch viel näher als vermutet? Spurensuche in einer Stadt unter der Erde (Teil I)
Von STEFAN GELLNER

Ort: Jonastal, Thüringen. Links und rechts einer schmalen Straße, die Arnstadt mit Crawinkel verbindet, steile Muschelkalkzüge und bewaldete Hügel. Die Kalkfelsen sind aus versteinerten Meeresablagerungen entstanden, die Millionen Jahre alt sind. Doch es sind nicht nur die Muschelkalkfelsen, die das Jonastal zu einem besonderen Ort machen. Es sind die Spuren menschlicher Aktivität im Tal, die diesem Ort seit dem Ende der DDR seine besondere Anziehungskraft verleihen.

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges trieben im Jonastal unter Leitung der SS KZ-Häftlinge fieberhaft Stollen in die Hänge des Tals. Welchem Zweck diese Anlagen im einzelnen dienen sollten, konnte bis heute nicht geklärt werden. Fest steht, daß der immer wieder genannte Grund, im Jonastal sollte ein Führerhauptquartier gebaut werden, nur von untergeordneter Bedeutung gewesen sein dürfte. Mehr und mehr verdichten sich in letzter Zeit Hinweise, daß das weitverzweigte Stollensystem im Jonastal vorrangig der deutschen Geheimwaffenproduktion dienen sollte. Autoren wie beispielsweise Harald Fäth, der bisher zwei Bücher zum Thema vorlegte, vermuten im Jonastal gar einen Ort deutscher Atomwaffenproduktion, die wesentlich weiter vorangeschritten gewesen sein soll, als bisher, aus welchen Gründen auch immer, behauptet wurde.

Verschiedene Gruppen privater Forscher versuchen seit Jahren weitgehend unbeachtet, die Hinterlassenschaften aus dieser Zeit des III. Reiches im Jonastal zu erforschen. Selbst das Bernsteinzimmer soll hier, geht es nach manchen Privatforschern, zu finden sein. Öffentliche Stellen verfolgen diese Aktivitäten allerdings eher mit Mißtrauen. Deren Hilfe und Unterstützung blieb den Spürnasen bislang in der Regel versagt, besonders was die Genehmigung zur Öffnung interessanter Objekte betrifft. Als gesichert kann heute gelten, daß Tausende von KZ-Häftlingen zwischen Herbst 1944 und April 1945 mindestens 25 Stollen in die Hänge des Jonastals gegraben haben. Diese Stollen wurden zu einem weitläufigen unterirdischen System ausgebaut. Deckname der Operation: „S(ondervorhaben) III“ und „Olga“. Nach Gerhard Remdt und Günter Wermusch („Rätsel Jonastal“, Zella-Mehlis/Meiningen 1998) stand „S III“ für das Bauvorhaben und „Olga“ für das geplante Führerhauptquartier und den nahe gelegenen Truppenübungsplatz Ohrdruf.

„S III“-Häftling Alexander Wlassow, von Beginn an an den Arbeiten im Jonastal beteiligt, gab 1967 zu Protokoll: „Die Arbeiten verliefen in drei Schichten. Während die Häftlinge des Zeltlagers (in Espenfeld, d. Verf.) hauptsächlich mit dem Bau von Wegen und dem Entladen des eintreffenden Baumaterials beschäftigt waren, wurden in Crawinkel Tunnel angelegt und unterirdische Räume gebaut. Wir hörten oft Erzählungen über riesige unterirdische Säle, über die Errichtung von unterirdischen Fabriken. Beharrlich liefen Gerüchte, daß die unterirdische Fabrik von Crawinkel V2-Waffen herstellen sollte. Außerdem wurden unterirdische Wohnräume und Unterstände gebaut, die ausgestattet waren mit großem Luxus und Komfort. Es ging das Gerücht, daß dort der Stab Hitlers untergebracht werden sollte, aber das hielten wir für übertrieben …“

Nach Ulrich Brunzel („Hitlers Geheimobjekte in Thüringen“, Zella-Mehlis/Meiningen 1998) war „S III“ eines der 81 Außenkommandos des Konzentrationslagers Buchenwald, die im Januar 1945 existierten. Von nicht unerheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die „Sondervorhaben“ laut Brunzel nach den geheimen Bauvorhaben der V-Waffen-Produktion an zweiter Stelle rangiert haben sollen. Sie hatten damit Vorrang vor allen anderen Bauvorhaben der Rüstungsindustrie bzw. der Verlagerung „kriegswichtiger Industrie“. Die S-Projekte unterstanden der Amtsgruppe D (Konzentrationslager) des SS-Verwaltungshauptamtes (WVHA). Andere Autoren wie Harald Fäth und der Verleger des CTT-Verlages in Suhl, Thomas Mehner, behaupteten, daß die S-Projekte noch über dem V-Waffen-Programm und dem Geilenberg-Programm (Sicherstellung der Treibstoffversorgung) standen. Sie sind der Meinung, daß im Rahmen der S-Projekte an kriegsentscheidenden (Atom-)Waffen gearbeitet wurde.

In der Tat gibt es eine Reihe von Indizien dafür, daß das Unternehmen „S III“ von erheblicher Bedeutung gewesen sein muß. Ins Auge fällt vor allem die ungewöhnliche Eile, mit der die amerikanischen Truppen unter General Patton in Richtung Thüringen vorstießen. In nur zehn Tagen, zwischen dem 22. März und dem 1. April 1945, marschierte Pattons Armee von Oppenheim am Rhein bis kurz vor Eisenach. Als Pattons Einheiten dann auf das Gebiet Arnstadt bzw. Ohrdruf vordrangen, stießen sie auf den erbitterten Widerstand der 6. SS-Gebirgsdivision. Die Autoren Remdt und Wermusch  schreiben über diese Kämpfe: „Tage- und nächtelang, zwischen dem 5. und 11. April, tobte der für die Verteidiger von vornherein  aussichtslose Kampf, wobei deren Panzerabwehrkanonen den Sherman-Panzern der Amerikaner, die auch Tiefflieger und Bomber einsetzten, schwer zu schaffen machten.“

Was geschah, als der deutsche Widerstand gebrochen war, darüber läßt sich nach heutigen Erkenntnissen nur mutmaßen. Die Amerikaner schwiegen und schweigen sich bis heute aus. Harald Fäth schreibt in seinem Buch „1945 – Thüringens Manhattan-Project“ (Suhl, 1998): „Selbst nachdem der amerikanische Oberbefehlshaber Eisenhower und seine Generäle das KZ in Ohrdruf … inspiziert hatten, stellte niemand die Frage, wofür es überhaupt errichtet worden war. Dabei wußten die Generäle doch längst, daß sich im Jonastal eine Großbaustelle der SS befand.“ Die US-Armee hatte augenscheinlich kein Interesse daran, daß die geheimnisvollen Vorgänge im Jonastal einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurden. In den heute zugänglichen Dokumenten findet sich auch kein Hinweis auf die Besichtigung des Jonastals durch Eisenhower und seinen Stab. Die entsprechenden Dokumente, so Fäth, seien „genauso unvollständig wie die zugänglichen Dokumente der Spezialeinheit, die den Auftrag hatten, das Jonastal zu erkunden. So existiert beispielsweise ein Bestandsverzeichnis der Luftbilder vom 9. Januar 1945. Es ist ein eindeutiger Hinweis dafür, daß auch das Jonastal und seine Umgebung fotografiert wurde. Doch gerade die interessanten Luftbildaufnahmen von der Großbaustelle sind aus dem Archiv entfernt worden!“.

Die Protokolle darüber, was die Amerikaner im Raum zwischen Arnstadt, Jonastal und Crawinkel genau fanden, befinden sich in den nationalen Archiven in den USA. Viele Dokumente unterliegen auch 50 Jahre nach Kriegsende immer noch der Geheimhaltung. Der Historiker Korte fand bei seinen Recherchen für die ZDF-Dokumentation „Das letzte Führerhauptquartier – Was fand die US-Armee 1945?“ nach den Ausführungen von Fäth „Belege dafür, daß die Besatzer in der näheren Umgebung mehrere hundert Tonnen Dokumente abtransportiert haben. Sie stammten von hohen deutschen Militär- und Regierungsstellen. Korte selbst stellte im Rahmen seiner Recherchen fest: „Ich bin nun seit über 10 Jahren hier in diesem Archiv (dem National Archive, d. Verf.) tätig. Warum … das Jonastal sich praktisch in Akten überhaupt nicht niederschlägt, ist mir bisher völlig unerklärlich.“ Diese Diagnose führt Fäth zu der Frage: „Doch was könnte nach Ablauf von mehr als 50 Jahren noch so wichtig sein, daß es eine immer noch andauernde Klassifizierung (als geheim, d. Verf.) rechtfertigt?“

Genau darüber haben sich Autoren wie die bereits genannten Harald Fäth und Ulrich Brunzel Gedanken gemacht. Als Auslöser für seine eigenen Recherchen nennt Fäth im Vorwort seines bereits angesprochenen Buches „1945 – Thüringens Manhattan-Project“, die oben genannte vermeintliche ZDF-Dokumentation, die, so Fäth, im amerikanischen Auftrag produziert wurde. Diese Dokumentation deutet die Stollenanlagen im Jonastal als mögliches letztes Hauptquartier Hitlers bzw. als mögliches Versteck des Bernsteinzimmers.

Fäth kam im Laufe seiner Recherchen allerdings zu völlig anderen Ergebnissen: das Stollensystem sollte in erster Linie der Produktion deutscher Geheimwaffen dienen. Genauer gesagt: das Areal Jonastal soll der Ort des Baus einer deutschen Langstreckenrakete mit nuklearem Gefechtskopf, der sogenannten „Amerika-Rakete“, gewesen sein. Verantwortlicher dieses Projektes war der SS-Obergruppenführer Hans Kammler, der auch für die Hochtechnologieprojekte in Nordhausen („Mittelwerke“) oder Prag („Skoda-Werke“) verantwortlich war. Kammler ist, auch dies spricht für sich, seit Kriegsende spurlos verschwunden.

Doch der Reihe nach: Erste Hinweise über Aktivitäten im Jonastal datieren vom Herbst 1944. Explodierende Sprengladungen und das monotone Geräusch von Kompressorhämmern deuten auf eine umfangreiche bergbautechnische Erschließung des Areals hin. Überwacht wurden die KZ-Häftlinge von SS-Wacheinheiten, die sie zu einem im wahrsten Sinne des Wortes mörderischen Arbeitstempo antrieben. Zwischen 25 000 und 30 000 Häftlinge aus dem Ohrdruf-Außenlager des KZ Buchenwald sollen im Jonastal zum Einsatz gekommen sein. Viele haben diesen Einsatz mit ihrem Leben bezahlt. Dazu kamen Ingenieure, Architekten und bergbautechnisches Personal, das zum Teil von der Front zurückbeordert wurde – ein weiterer Hinweis für die kriegswichtige Bedeutung des Vorhabens. Daß Thüringen als Ort derartiger Projekte ausersehen wurde, war kein Zufall. Thüringen galt als „Schutz- und Trutzgau“ des Dritten Reiches und wuchs im Laufe des Krieges mehr und mehr in die Rolle eines Rückzugsgebietes hinein, das zunächst für die alliierten Bomberverbände nicht erreichbar war.

Als die Arbeiten im Jonastal und in der Umgebung ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hatten, begann die Verlegung wichtiger Ämter und Stäbe. Auch Güter aus den besetzten Ländern, Gold, Papiergeld und Devisen wurden nach Thüringen transportiert. Wieviel im einzelnen dorthin gelangte, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden.

Doch nicht nur Personal, Kunstgüter u. a. m. hatten Thüringen als Ziel, sondern auch, und dies ist für unsere Betrachtungen entscheidend, Entwicklungen der Hochtechnologie mitsamt den zugehörigen Forschungsabteilungen. Darunter befand sich auch eine Abteilung der deutschen Gruppe für Atomforschung um Dr. Kurt Diebner und Prof. Walter Gerlach, die in dem Kellergewölbe einer Mittelschule des in der Nähe von Arnstadt gelegenen Stadtilm ihr Forschungslabor installierten. Allgemein wird heute von zwei (rivalisierenden) deutschen Atomprojekten ausgegangen, für die die Namen Diebner und Heisenberg stehen. Tatsächlich soll es neben diesen noch ein Atomprojekt der Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost unter Wilhelm Ohnesorge und ein Projekt der SS bei Skoda, Prag, gegeben haben. Von letzterem ist bis heute wenig bis nichts bekannt. Nach Aussagen von Sicherheitsdienst-Chef Heinrich Müller („Gestapo-Müller“) sollen die Forschungen der SS weit vorangeschritten gewesen sein. Dazu später mehr.

Das Projekt „S III“ muß im Zusammenhang mit einer Reihe von weiteren geheimen Anlagen gesehen werden, die im Raum Jonastal bzw. Truppenübungsplatz Ohrdruf entstanden. Daß über diese Vorhaben kaum etwas bekannt ist, liegt einmal an der Sicherheitseinstufung im Dritten Reich und zum anderen an der Unmöglichkeit weitergehender wissenschaftlicher Erforschungen in der SBZ- bzw. DDR-Ära.

Fäth ist der Überzeugung, daß der Komplex „S III“ wesentlich größer gewesen sein muß, als heute vermutet. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine von Fäth zitierte Aussage des US-Offiziers Robert S. Allen, der die unterirdischen Anlagen wie folgt beschrieb: „Die unterirdischen Anlagen waren erstaunlich. Sie waren richtige unterirdische Städtchen. In der Umgebung von Ohrdruf gab es vier davon: Eine nahe dem Konzentrationslager, eine unter dem Schloß (gemeint ist die Burg Wachsenburg, d. Verf.) und zwei westlich der Stadt. Andere wurden aus naheliegenden Orten gemeldet. Keine war in natürliche Höhlen oder Stollen gebaut. Alle waren künstliche, militärische Anlagen … Mehr als achtzehn Meter unter Grund hatten die Anlagen zwei oder drei Etagen, waren mehrere Kilometer lang und waren wie die Speichen eines Rades gebaut. Die ganze Verschalung war aus massivem, mit Stahl verstärktem Beton …“

Warum ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß das Projekt „S III“ im Jonastal der Ort der Produktion deutscher Atomwaffen gewesen sein könnte? Antworten hierzu in der kommenden Woche.

(Fortsetzung folgt)

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. Mai 2000

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