von Klaus Reinhold – Chronik Arnstadt (704 – 2000)
Teil III
Höhepunkte der Stadtgeschichte und sonderbare Begebenheiten

Abschnitt: Die Feinde kommen Seite 215

1945
Am 2.4.1945 mußten plötzlich alle Geschäfte mittags öffnen. Die Bäcker hatten Befehl, alles verfügbare Mehl zu Brot zu verbacken. Die Stadt war wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm. Arnstadt war zur Frontstadt geworden. Ununterbrochen gab es Fliegeralarm. Die Leute nahmen Betten und Lebensmittel mit in die Keller, denn sie konnten nicht wissen, wie lange sie dort zubringen mußten.

Am nächsten Tag (3.4.) wurde die Bevölkerung aufgefordert, das Riesenproviantlager der Marine, welches sich in der Malzfabrik befand, zu räumen. Die Menschen rasten wie die Wahnsinnigen dorthin und schleppten oder fuhren mit dem Handwagen alles weg, was sie nur schaffen konnten. Dort gab es alles was man sich denken konnte in riesigen Mengen und meist in Kisten verpackt: Würste, Speckseiten, Kaffee, Tee, Schnaps, Likör, Ölsardinen und vieles andere. Die Menschen stürmten nun in diese Riesenhallen und ein unbeschreibliches Durcheinander war die Folge. Sie schlugen sich gegenseitig die bereits an sich gerissene Beute wieder aus den Händen, warfen auch die Kisten aus den Fenstern, wo Angehörige die Lebensmittel einsammelten, was nur selten ohne Schlägerei untereinander abging.

Die ganze Nacht über passierten Autos mit deutschen Soldaten, vielfach ohne Waffen, in Richtung Osten unsere Stadt. Die Amerikaner waren schon kurz vor Gotha. Ab 20.00 Uhr bis 7.00 Uhr morgens (4.4.) lag Arnstadt unter Artilleriebeschuß. Die Granaten hörte man Pfeifen und einschlagen und pausenlos war Fliegeralarm. In der Stadt brannten Häuser, aber an Löschen war nicht zu denken. Um 7.00 Uhr hörte der Beschuß auf, aus den Kellern kamen verstörte Gesichter zum Vorschein. Es bestand aber immer noch Feindalarm. Während des Tages und auch noch am 5.5. passierten weiterhin fliehende deutsche Truppen Arnstadt. Ab 6.4. durchzogen größere Trupps KZ-Häftlinge die Stadt. Der Marsch (in Viererreihen) dauerte einen ganzen Tag.

Arnstadt sollte auf keinen Fall kampflos in die Hände der Amerikaner fallen. Am 7.4. war von Waldkämpfen bei Arnstadt die Rede. Der Landrat des Kreises Arnstadt war am 8.4. plötzlich verschwunden. Dr. Herwig hatte nun die heikle Aufgabe übernommen, das Amt weiterzuführen. Die in Arnstadt befindlichen Kriegsgefangenen hatten jetzt die Gunst der Stunde erkannt und begannen am 9.4. mit der Plünderung von Läden. Keiner wagte es, sich ihnen entgegenzustellen. Die Lebensmittelläden (Fleischer, Bäcker, Molkereigeschäfte) hatten den Befehl erhalten, ihre Waren an die Bevölkerung zu verteilen. Auch aus dem Theater, welches zum Militärlager umfunktioniert worden war, gab es bis 20.30 Uhr Waren, wie Hemden, Unterhosen, Strümpfe, Schals usw. für die Männer.

In der Nacht vom 9. zum 10.4. stand Arnstadt erneut unter starkem Beschuß. Die Luftschutzkeller wurden wieder aufgesucht. Nach einem kurzzeitigem Nachlassen, setzte gegen 10.00 Uhr der Beschuß wieder ein, diesmal bereits mit MG’s und Panzergeschützen. Dabei wurde der Wasserturm getroffen, der natürlich auslief. Das auslaufende Wasser strömte u. a. auch in den Krankenhausbunker, der deshalb geräumt werden mußte. Das Stofflager im Stadttheater wurde geöffnet und jetzt begann etwas, was wohl kein Mensch glauben mag. Die Leute rannten trotz des heftigen Beschusses der Stadt ins Theater und nun mit Stoffballen und Wäschestücken beladen durch die Stadt, kreuz und quer. Kreisleiter Mütze ließ am 10.4.1945 die HJ vom Arnsberg aus auf die amerikanischen Panzer schießen und veranlaßte dadurch die Feinde mit ihren Geschützen in diese Richtung zurückzuschießen, wobei die Häuser Gothaer Straße 25, 27 und 31 schwer beschädigt wurden. Infolge des von Mütze organisierten Widerstandes fielen noch auf Arnstadt 82 Artilleriegeschosse, die in und an den Häusern des westlichen Stadtteils beträchtlichen Schaden anrichteten. Zwei Kinder mußten dies mit ihrem Leben bezahlen. Nachdem der Nazi-Kreisleiter Mütze geflohen war, wurden weiße Fahnen auf den Häusern gehißt. Um 12.30 brachen die ersten amerikanischen Panzer, vom Westen, von der Alteburg, vom Wasserturm vom Arnsberg kommend in die Stadt ein. Die US-Soldaten begannen damit, Haus für Haus zu kontrollieren. Als die Arnstädterinnen (Männer waren kaum noch da) zum ersten Mal einen „Feind“ vor sich sahen, mußten sie feststellen, daß dies keineswegs mordgierigen Bestien waren. Es handelte sich vielmehr um ganz normale Menschen, die genau so aussahen, wie ihre eigen Söhne, Männer oder Väter (wenn man einmal von den farbigen Soldaten und den Uniformen absieht).

Quelle: Chronik Arnstadt

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