Aus Nummern werden Menschen – die Geschichte der KZ-Häftlinge – vom 18.10.2005

Quelle: Suttgarter Zeitung Online am 18.10.2005

Aus Nummern werden Menschen – die Geschichte der KZ-Häftlinge

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Listen in Buchenwald und Bergen-Belsen offenbaren die Namen von mehreren hundert Opfern – Weiteres Massengrab in Echterdingen unwahrscheinlich

Mehr als 60 Jahre lang wusste man fast nichts über die 600 jüdischen Männer, die im Winter 1944/45 im KZ Echterdingen Schwerstarbeit verrichten mussten. Die StZ hat jetzt aus Gedenkstätten und Archiven 477 Namen zusammengetragen. Das hat auch Folgen für die Ermittlungen.

Von Thomas Faltin

Das Leben der jüdischen Häftlinge war in den Konzentrationslagern keinen Pfifferling wert – trotzdem haben die Nazis mit fast wahnhafter Akribie Transportlisten, Totenbücher und Insassenverzeichnisse der Lager geführt. Dieser Widerspruch zwischen extremer Menschenverachtung und genauester Menscheninventarisierung jagt jedem historisch Forschenden einen Schauer über den Rücken.

Und dennoch: gerade diese Listen sind es heute, die Auskunft geben können über die Namen und Schicksale der KZ-Häftli nge. Solche Dokumente existieren auch für das KZ Echterdingen, nur hat 60 Jahre lang niemand in den fraglichen Gedenkstätten und Archiven angeklopft. Dabei sind die Informationen aus Buchenwald, Bergen-Belsen und Vaihingen/Enz eine kleine Sensation: Der zumindest vorläufige Verbleib von wahrscheinlich 598 der 600 Männer kann nun rekonstruiert werden. Zudem sind jetzt insgesamt 477 Häftlinge namentlich bekannt, während es noch vor vier Wochen gerade 22 Namen gewesen waren. Dies also ist die Geschichte der Echterdinger Häftlinge.

> Vermutlich sind 119 Menschen im KZ Echterdingen an Hunger, Kälte und Erschöpfung gestorben. 85 von ihnen ruhen auf dem jüdischen Teil des Ebershaldenfriedhofs in Esslingen, 34 Tote sind vor knapp vier Wochen im Massengrab am Flughafen entdeckt worden. Ob es sich dabei aber zweifelsfrei um Häftlinge des KZs Echterdingen handelt, muss erst noch geklärt werden.

> 100 Menschen sind am 9. und 10. Januar 1945 ins Sterbelager nach Vaihingen/Enz transportiert worden. Von ihnen fanden bis Mitte März 74 Männer den Tod – Namen, Herkunftsorte und Lebensdaten sind im Totenbuch des Lagers überliefert.

> 320 Menschen, also der weitaus größte Teil der Häftlinge, sind am 30. Januar 1945 im KZ Ohrdruf bei Gera angekommen. Dies geht aus einer „Veränderungsmeldung“ über Neuzugänge hervor, von der sich Kopien in der Gedenkstätte Buchenwald erhalten haben. Alle 320 Namen sind, fein säuberlich nach Nationen sortiert und in alphabetischer Reihenfolge, erhalten. Die Archivarin der Gedenkstätte, Sabine Stein, geht zudem davon aus, dass sich über einen Abgleich mit der teilweise noch existierenden Nummernkartei der Schreibstube des KZ Näheres über das Schicksal vieler Häftlinge herausfinden ließe. Sie sagt aber auch: „Zu jener Zeit herrschte im KZ Ohrdruf Chaos, die Sterblichkeit war enorm hoch.“ Zumindest finden sich in der Liste neun Männer, von denen bekannt ist, dass sie den Holocaust überlebt haben. Insgesamt weiß man von zwölf überlebenden Häftlingen des KZ Echterdingen.

> 59 Menschen sind am 22. Januar 1945 im KZ Bergen-Belsen bei Celle registriert worden. Das teilte Bernd Horstmann, der Archivar der Gedenkstätte, gestern mit: Aus den Nummernbüchern des KZ Natzweiler, zu dem Echterdingen als Außenkommando gehörte, ließen sich alle 59 Namen und Geburtsdaten rekonstruieren, so Horstmann.

Mit diesen neuen Erkenntnissen ist man dem wichtigen Ziel, den bisher namenlosen ehemaligen KZ-Häftlingen ein Gesicht und damit einen Teil ihrer Würde zurückgeben zu können, näher gekommen. Doch auch für die aktuellen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben die neuen Informationen Auswirkungen. Zum einen ist es durch diese fast vollständige Rekonstruktion der Transporte äußerst unwahrscheinlich geworden, dass sich noch ein weiteres Massengrab auf dem Gelände des Flughafens befindet – das war auf Grund einer Zeugenaussage vermutet worden. Einzig denkbar wäre, dass im jetzt entdeckten Massengrab keine jüdischen Häftlinge verscharrt wurden – dann wäre der Verbleib von 36 Menschen offen. Diese Variante ist allerdings nicht sehr plausibel.

Zum anderen eröffnen sich für die Behörden neue Wege, um etwas über die bisher noch völlig rätselhafte Identität der Toten in Echterdingen zu erhalten. Denn es ist nicht abwegig, dass sich in Paris, wo viele Dokumente zum elsässischen KZ Natzweiler lagern, oder in Washington, wo Nummernbücher erhalten sind, auch Zugangslisten für das KZ Echterdingen vom November 1944 finden. Dann ließe sich vielleicht durch einen Vergleich mit den Listen aus Vaihingen/Enz, Bergen-Belsen und Ohrdruf die Identität der Toten klären. Ob es dazu je kommen wird, ist unklar: Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass jemand die Kosten für eine solche historische Forschung zu übernehmen bereit ist.

Alle bisherigen Berichte der Stuttgarter Zeitung zum KZ Echterdingen und dem Massengrab sind in einem Dossier unter http://www.stuttgarter-zeitung.de/massengrab abrufbar.

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