COMPIEGNE, 11. NOVEMBER 1918/22. JUNI 1940

Triumph und Schmach in Wagon 2419 D

In der Geschichte eines Eisenbahnwagens spiegelt sich die einst tödliche Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich.
Von Jürg Schoch, Compiegne

Still ist es, fast totenstill an diesem kalten Dezembernachmittag auf der Lichtung. Kein Mensch weit und breit. Dienstbare Geister haben die letzten Herbstblätter zusammengerecht, die zwei Geleise, die über den runden Platz führen, schimmern im Winterlicht. Am Rande steht, einsam und verlassen, Marschall Foch auf seinem Sockel, der Oberkommandierende der französischen Armee im Ersten Weltkrieg.

Auf der Fahrt von Compiegne hierher hat Camille Gamache ganz in der Nähe einen kurzen Halt eingeschaltet, auch an einem Bahngeleise. Eine Stele erinnert an den letzten Zug, der sich dort am 17. August 1944 mit 1250 Todgeweihten Richtung Buchenwald in Bewegung setzte. Camille Gamache hat manche Kriegsschauplätze erlebt, in Indochina, in Algerien. Jetzt widmet sich der pensionierte Panzergeneral in seiner Freizeit der Pflege jener Lichtung, in der Triumph und Demütigung wirkungsvoll inszeniert wurden.

Im Herbst 1918 zeichnet sich die Niederlage Deutschlands immer deutlicher ab. Marschall Foch, der sein Hauptquartier in Senlis, auf halber Strecke zwischen Paris und Compiegne, aufgeschlagen hatte, widmet sich in jenen Novembertagen eingehend der Infrastruktur für die Unterzeichnung des Waffenstillstands. Schliesslich entscheidet sich der Marschall für den Wald mit den beiden Geleisen. Für die deutsche Delegation lässt er auf dem einen den Salonwagen Napoleons III. auffahren, für die französische den Speisewagen 2419 D der Compagnie Wagon-Lits, der dem Marschall während des Kriegs als mobiler Kommandoposten diente. Am 11. November, morgens um 5 Uhr, unterzeichnen die Deutschen. Das Reich ist besiegt. Wagon Nr. 2419 D versah nach dem Krieg wieder seinen ursprünglichen Dienst und rollte erst 1927, nach einigen Irrungen und Wirrungen, wieder zurück nach Compiegne, wo das vermutlich kleinste Verkehrsmuseum der Welt entstand: ein Haus, ein Vehikel. In Erinnerung an ihren Sieg errichteten die Franzosen ausser der Statue Foch ein Denkmal für die Rückeroberung von Elsass-Lothringen sowie, mitten auf der Lichtung, ein Ensemble aus liegenden Steinplatten mit der Aufschrift: „Hier nahm am 11. November 1918 der verbrecherische Stolz des deutschen Reichs sein Ende, besiegt von den freien Völkern, die es sich anmasste zu unterjochen.“

Wenige Tage nach dem deutschen Angriff vom 10. Mai 1940 ist Frankreich besiegt. Für Adolf Hitler steht rasch fest, wo er den Waffenstillstand unterzeichnet haben will. Ein Kommando der Organisation Todt bereitet alles vor. Die „Mitteldeutsche National-Zeitung“ beschrieb später, wie es weiterging: „Kräftige Männerfäuste beginnen, den Wagen herauszuschieben. Es geht nicht. Die rechte vordere Wagenseite klemmt sich in die Mauer. Rasch wird das Hindernis herausgebrochen … Dann rollt der Wagen 2419 D an die Stelle, an der er am 11. November 1918 stand, wo Marschall Foch die deutschen Bevollmächtigten zum Diktat empfing.“ Am 22. Juni 1940 empfängt Hitler die Franzosen zum Diktat. Der „Führer“ setzt sich auf jenen Platz, auf dem Foch gesessen hatte. Nach der Zeremonie rollte 2419 D ostwärts, nach Berlin, wo die Bevölkerung die Trophäe im Lustgarten bewundern konnte. Nach Deutschland verfrachtet wurden auch die Steinplatten mit der Aufschrift über den verbrecherischen Stolz, das Elsass-Lothringen-Denkmal demolierten die Nazis.

Überhaupt liessen sie die Lichtung in chaotischem Zustand zurück. Nur an Fochs Statue legen sie nicht Hand an. Aus Respekt? Nein. Der Sieger von 1914/18, erklärt General Gamache, sollte auf ein Trümmerfeld vor seinen Füssen blicken – Schonung als Akt der Demütigung des unterworfenen Feindes.

Heute ist alles wieder an seinem Ort, das Denkmal, die Steinplatten (nach dem Krieg in der sowjetischen Besatzungszone gefunden), der Wagon. Fein säuberlich restauriert steht er in der Halle, seine Inneneinrichtung hält die siegreichen Tage des Novembers 1918 fest, die Spuren der Schmach von 1940 sind getilgt. Nur, der heutige Wagon ist nicht der echte, sondern ein Nachbau aus der gleichen Serie. Der historische wurde vor Kriegsende von Berlin nach Thüringen verschoben und ging dort in Flammen auf. Die genaueren Umstände sind nicht bekannt. Die Frau und der Mann, die an diesem Dezembertag Aufsichtsdienst haben, sind nicht überbeschäftigt. Rauchend und frierend stehen sie im Vestibül. Die Heizung funktioniert nicht richtig. Überhaupt muss das Museum schmal durch. Subventionen gebe es keine, alles basiere auf privater Initiative, sagt Gamache. Die Besucherzahl, jährlich um die 100 000, stagniere. Gerade zentral liegt die Waldlichtung nicht. Lehrer müssen schon einen Bus organisieren, um mit ihren Klassen den Ort aufzusuchen. Seit in der Nähe der Asterix-Vergnügungspark seine Attraktionen anbietet, wird im Vestibül ein bisschen traurig festgestellt, habe das Interesse an der Lichtung eher noch abgenommen. Für die Lehrer sei es eben bequemer, die Kinder dort „abzugeben“, als ihnen Zeitgeschichte zu erklären.

Auf der Rückfahrt nach Compiegne kommt das Gespräch auf die viel beschworene deutschfranzösische Freundschaft von heute. Für den General a. D. ist Freundschaft ein zu grosses Wort. Es werde noch mindestens eine Generation dauern, bis die Wunden vergessen seien. Und er beginnt von jenen zu erzählen, die die einstige Feindschaft in seiner Familie hinterlassen hat.

(C) Tagesanzeiger CH am 31.12.1999

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