Sechs Jahre im Angesicht des Todes… auch im KZ Crawinkel – vom 07.12.2005

Quelle: Suttgarter Zeitung Online am 07.12.2005

Sechs Jahre im Angesicht des Todes

Benjamin Gelhorn hat das KZ Echterdingen am Flughafen und sechs weitere Lager überlebt

LEINFELDEN-ECHTERDINGEN. Benjamin Gelhorn ist einer von drei Männern, die noch über das KZ Echterdingen berichten können. Er hat sechs Jahre Getto, KZ und Arbeitslager überlebt. Traurig ist auch seine weitere Lebensgeschichte: Gelhorn wohnt in München in großer Armut.

Von Thomas Faltin

Der uralte Herd muss jetzt im Winter in der armselig eingerichteten Einzimmerwohnung auch als Heizung dienen: Benjamin Gelhorn zieht die Klappe herunter und dreht den Schalter auf die höchste Stufe – so fließt ein wenig Wärme in das Apartment. Menschliche Wärme hat Gelhorn sowieso immer vermissen müssen. Denn außer ihm sind alle aus der Familie umgekommen in der Schoah, im unfassbaren Völkermord an den europäischen Juden. Und auch nach dem Krieg ist Gelhorn alleine geblieben. Im Konzentrationslager (KZ) Crawinkel hatte man ihm zum Spaß statt einen zwei 50-Kilo-Säcke mit Zement auf d ie Schultern geworfen. Er stürzte, der Unterschenkel brach, es blieb eine Gehbehinderung. Bei den Frauen hatte er deshalb keinen Schlag.


Seit mehr als einem halben Jahrhundert lebt Benjamin Gelhorn in einer Einzimmerwohnung, die sehr einfach eingerichtet ist: Ein Bett dient zum Schlafen, eines als Sofa. Foto: Achim Zweygarth


Die Häftlingsnummer 142906, die Benjamin Gelhorn in Birkenau eintätowiert wurde, ist noch immer auf dem linken Unterarm zu sehen.
Foto: Achim Zweygarth

Trotzdem beklagt sich Benjamin Gelhorn nicht. „Was soll ich weinen? Das ändert nichts“, sagt der kleine Mann mit den wachen Augen und dem knitzen Humor. Womöglich liegt diese Einstellung darin begründet, dass Benjamin Gelhorn aus einer Zeit stammt, in der Armut etwas Selbstverständliches war. Sein Vater sammelte Lumpen, damals in den 20er-Jahren in Lodz, als Jiddisch noch eine alltägliche Sprache war in den „Städels“ Osteuropas. Diese Welt ging unter, als die Deutschen Polen überrannten und das Höllenfeuer des Antisemitismus entfachten. Gelhorn war damals 16 Jahre alt.

Mit Zahlen lässt sich das Grauen nicht fassen. Wer fühlt schon den Schmerz, wenn man sagt: im Getto von Lodz, wo auch Benjamin Gelhorn von 1939 an eingepfercht war, lebten zeitweise 160 000 Juden in 2300 Häusern. Wie groß Angst und Hunger waren, verdeutlichen Episoden. Gelhorn musste damals Toilettengruben leeren. Einmal fand er in einer Grube einen Sack voller Kartoffeln. „Das war ein Luxus“, schwelgt er. Während seine Mutter die Kartoffeln wusch, riss er Latten aus einem Zaun, um ein Feuer machen zu können. Doch die jüdische Polizei erwischte Gelhorn, und die Strafe hieß: Verbannung. Man expedierte ihn ins Lager.

Der Tag, als er das Getto verließ, war ein Tag des endgültigen Abschieds. Benjamin Gelhorn sollte niemanden aus seiner Familie wiedersehen. Der Vater kam in Ostpreußen um, die Mutter und die vier Geschwister wurden, wie 70 000 andere Juden aus Lodz, ins 60 Kilometer entfernte Chelmno verfrachtet. Sein jüngster Bruder hieß Berele. Er starb mit unschuldigen drei Jahren im Gas von Chelmno. „Die Soldaten haben schon bei der Ankunft Gas in die Waggons geworfen“, hat Gelhorn später erfahren. Geblieben ist ihm nichts: kein Foto, kein Ring, kein Brief.

War das Arbeitslager bei Posen, wo Benjamin Gelhorn Felder entwässern und Kanäle bauen musste, also ein Glück, weil er so der Vernichtung entging? In solchen Kategorien wagte niemand zu denken. „Auch im Arbeitslager machten wir uns keine Illusionen“, sagt Gelhorn mit Bestimmtheit, „wir wussten, dass wir früher oder später erledigt waren.“

Alle Daten, wann Gelhorn in welchem Lager war, hat er vor Jahrzehnten in einen mittlerweile vergilbten Taschenkalender geschrieben. Jetzt holt er ihn hervor: Fast drei Jahre also war er im Posener Lager, dann, um die Jahreswende 1942/43, geriet er in das Auge des nationalsozialistischen Zyklons, in das Zentrum der Vernichtungsmaschinerie – nach Auschwitz-Birkenau. Bei der Ankunft spielte eine Häftlingskapelle „Rosamunde“, und im Takt der Musik wurde taxiert, wer zur Arbeit taugte und wer in die Gaskammern ging. „Du links, du rechts“, schrien die Menschenbegutachter. Drei von vier Menschen, vor allem Frauen, Alte und Kinder, überlebten den Tag der Ankunft nicht. Auch Gelhorn wurde zum Duschen geschickt. Doch es geschah ein Wunder: Statt Zyklon B rieselte aus den Duschköpfen tatsächlich Wasser.

In Birkenau, im Block 28, lebte Gelhorn knapp zwei Jahre lang als Häftling mit der Nummer 142906. Mit Kübeln musste er für eine Weberei Wasser herbeitragen. Er tat dies mit nicht nachlassendem Eifer, denn täglich seien Arbeitsunfähige „aussortiert“ worden. Was mit ihnen geschah, war klar: „Alle im Lager wussten, dass sie vergast wurden.“

Im Herbst 1944 wurde Gelhorn ins KZ Stutthof bei Danzig verlegt, wo er nur wenige Wochen blieb. Dann rollte wieder ein Eisenbahnzug durch das gesamte Deutsche Reich, und als sich der Waggonverschlag öffnete, sprang der mittlerweile 22-Jährige wie 599 andere Männer herunter auf ein Rollfeld. Es war der 21. November 1944. Im Tumult hört er das erste Mal den Namen des neuen Lagers: Echterdingen.

Der ehemalige Häftling beharrt darauf, dass die jüdischen Gefangenen in verschiedenen Hangars untergebracht wurden, obwohl man bisher nur von einem Gebäude wusste. Seine Aufgabe im KZ Echterdingen war es, die Startbahn zu reparieren, wenn Fliegerangriffe das Gelände mit Bombentrichtern übersät hatten. Auch in der Nähe ihres Hangars seien mehrmals Bomben niedergegangen, weiß Gelhorn. Von Todesangst spricht er nicht, wie er überhaupt viele seiner Geschichten mit solcher Distanz erzählt, als habe er sie nicht selbst erlebt, sondern nur von jemandem gehört. Aber vielleicht muss man nach sechs Jahren im Angesicht des Todes viele Gefühle abspalten, sonst geht man an ihnen zu Grunde. Wie es Benjamin Gelhorn damals im Innersten erging, darüber geht er mit einem einzigen Satz hinweg: „Wir haben Gott gedankt, wenn wir morgens wieder aufgewacht sind.“

Tatsächlich war der Tod in Echterdingen ein ständiger Gast. 119 Häftlinge sind dort binnen zweier Monate verhungert, erfroren, an Krankheit und Erschöpfung gestorben. Gelhorn musste zweimal selbst zur Spitzhacke greifen. Einmal zwang man ihn, aus einem zugeschütteten Bombentrichter einen Toten zu bergen, der dort mehrere Wochen gelegen hatte. Die Leiche sei verwest gewesen, und er habe sie mit Draht umwickeln müssen, um sie als Ganzes bergen zu können.

Das andere Mal hat Benjamin Gelhorn mit vier anderen Häftlingen sechs Tote, die über Nacht ihre Seele ausgehaucht hatten, auf dem Lagergelände vergraben müssen. Unter ihnen sei auch ein Rabbiner aus dem polnischen Alexander gewesen, weiß Gelhorn, und ein Schüler habe zum Gedächtnis einen Zettel mit dem Namen des Rabbis in eine Flasche gesteckt. Sie legten sie unter den Kopf des Toten. Das Landeskriminalamt ist über diese Aussage beunruhigt, denn ein Grab mit sechs Personen war nie gefunden worden. Das gesamte Gelände ist nun nach dem Rabbi abgesucht worden. Vergebens.

Benjamin Gelhorn selbst treibt etwas anderes um. An jenem kalten Tag im Winter 1944/45, am Grab des Rabbi, haben sich die fünf „Totengräber“ die Hand gegeben und sich geschworen: Wenn einer überlebt, solle er dafür sorgen, dass alle anderen und auch der Rabbi ein „ehrliches jüdisches Begräbnis“ erhielten, wie Gelhorn es formuliert. Doch Gelhorn, der Überlebende, hat dieses Versprechen über Jahrzehnte nicht eingelöst. Oft ist er später auf der A 8 am Flughafen vorbeigefahren, und jedes Mal schimpfte er sich einen „bleden Hund“, und die Tränen schossen ihm in die Augen.

Erst im Jahr 1982 hatte er den Mut anzuhalten. Mit einem guten Bekannten, dem Historiker Eberhard Schanbacher, schaffte er es, mit dem Bürgermeister von Filderstadt und Vertretern der US-Army das Gelände zu begehen. „Doch niemand hatte ernsthaftes Interesse“, erinnert sich Schanbacher. Mit einem nichts sagenden Brief des Bürgermeisters endete der erste Versuch, den Toten des Lagers ein würdiges Begräbnis zu geben.

Doch erhalten sie es jetzt, mit dem Begräbnis am 15. Dezember? Würden die Toten also am Ort ihres Leidens beerdigt bleiben wollen, wenn sie entscheiden könnten? Gelhorn weiß um die Brisanz der Frage. Doch will er sich nicht in die aktuelle Debatte einschalten und sagt salomonisch: Ein jüdisches Begräbnis gebe es nun – er würde dort aber nicht liegen wollen. An der Seite seiner wenigen Angehörigen möchte er einst in Ewigkeit ruhen.

Wenn es in jenem Winter 1944/45 auf der Startbahn nichts zu tun gab, wurden die Häftlinge auf die Bauernhöfe der Umgebung verteilt, um den Frauen im Stall zu helfen. Oft erhielt Gelhorn dort ein Stück Brot, und das hat ihm mit zum Überleben verholfen. Denn im Lager selbst habe es nur eine dünne Suppe gegeben, von der man nie satt wurde. Nicht selten sei es deshalb zu Schlägereien zwischen den Häftlingen gekommen, wenn einer zweimal mit dem Napf angestanden war und ein anderer deshalb leer ausging. An Misshandlungen durch die Aufseher kann sich Gelhorn dagegen nicht erinnern. So zieht Benjamin Gelhorn das ganz klare Fazit: „Echterdingen war besser als Birkenau – hier musste man nicht täglich eine Selektion befürchten.“

Am 20. Januar 1945 wurde das KZ Echterdingen aufgelöst, und Gelhorn kam auf den großen Transport mit 320 Männern ins KZ Ohrdruf bei Gotha. Die letzten Kriegsmonate schuftete er in Crawinkel und Buchenwald. Nach beinahe sechs Jahren gingen die Qualen auch für Benjamin Gelhorn zu Ende: Am 11. April 1945 erreichte die US-Armee Buchenwald. Gelhorn war, was ebenso leicht gesagt wie unglaublich war, ein freier Mann.

Nach dem Krieg verdingte sich der junge Gelhorn bei den US-Streitkräften in Landsberg als Küchenhelfer. 1948 verließ er, wie die meisten Überlebenden des Holocaust, das Land der Täter. Doch schon drei Jahre später kehrte Gelhorn wegen einer schlimmen Tuberkulose aus Israel zurück. Hier in Deutschland hatte er noch einen Onkel, und hier hatte er Vertrauen in die Kunst der Ärzte. Nach seiner Genesung blieb er in München.

Der deutsche Staat hat Benjamin Gelhorn früh entschädigt, 1948 erhielt er 9800 Mark. Das war damals eine große Summe – und ist doch ein Almosen, wenn man bedenkt, dass auf der Schuldseite Deutschlands sechs ermordete Familienangehörige und sechs grausame KZ-Jahre stehen. Immerhin reichte das Geld, um sich einen Lastwagen zu kaufen: Vornehm könnte man Gelhorns jahrzehntelange Tätigkeit zur Textilrecyclingbranche rechnen. Er selbst winkt ab: „Ich war ein Lumpensammler wie mein Vater.“ Tatsächlich hat Gelhorn in Textilfirmen in halb Deutschland die Stoffabfälle abgeholt, sortiert und ins Ausland weiterverkauft.

Diese Tätigkeit reichte zu einem bescheidenen Auskommen, für eine private Altersabsicherung aber nicht. Heute lebt Benjamin Gelhorn deshalb von einer kleinen Entschädigungsrente und Grundsicherung. Wenn die Miete überwiesen ist, bleiben ihm gerade 500 Euro zum Leben. Einen neuen Anzug für das Begräbnis am 15. Dezember wird sich Benjamin Gelhorn nicht leisten können.

Dabei werden er und die beiden anderen Überlebenden die wichtigsten Trauergäste bei dieser Beerdigung sein. Oft hat Gelhorn sich in all den Jahren gefragt, warum gerade er die Gnade des Überlebens erfahren durfte. Doch vielleicht erfüllt sich nun, nach 61 Jahren, ein tieferes Schicksal. Gelhorn ist geistig rege geblieben, und er wohnt nur 200 Kilometer vom früheren KZ Echterdingen entfernt. So kann er nun, den Lebenden und den künftigen Generationen, über das berichten, was in Echterdingen beinahe vergessen war. Jetzt nach der Entdeckung des Massengrabs, jetzt hört man ihm auch endlich zu.

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