Über die Verbindungen zwischen Echterdingen und Ohrdruf – vom 21.11.2005
Quelle: Suttgarter Zeitung Online am 21.11.2005
Die 119 Toten des Lagers haben wieder Namen
Eine Liste der Männer in den zwei Massengräbern liegt jetzt vor, doch bleibt eine Einzelidentifizierung unmöglich
LEINFELDEN-ECHTERDINGEN. Nummernbücher, Transportlisten, Todeseinträge: durch einen Vergleich verschiedener Quellen sind nun alle 600 Häftlinge des Lagers Echterdingens namentlich bekannt. Die 119 Toten können so identifiziert werden. Werden sich weitere Angehörige melden?
Von Thomas Faltin
Ein unbekannter Menschenverwalter hat vor 61 Jahren alle Namen der Häftlinge des Konzentrationslagers Echterdingen mit ruhiger Hand und in Schönschrift auf 21 Seiten erfasst: Von Moritz Albick bis Simon Zwilling stehen die 600 Namen untereinander in einem Buch des Schreckens, im Nummernbuch Natzweiler, das nun erstmals für Echterdingen öffentlich eingesehen werden konnte. Diese „Eingangsliste“ verrät für jede Person zudem Nationalität und Geburtsdatum. So lüftet sich das Geheimnis um die Identität der Echterdinger Häftlinge. Im Übrigen hat der Schreiber auf jeder Seite mit feiner Linie quer über alle Namen eingetragen: „Juden – Juden – Juden“. Damit bestätigt sich, dass alle Häftlinge jüdischen Glaubens waren.
Der jüngste Arbeiter des Lagers hieß Laszlo Kohn. Er war gerade 16 Jahre alt und starb aller Wahrscheinlichkeit nach in Echterdingen – an Hunger, Krankheit oder Kälte – sechs Tage vor seinem 17. Geburtstag. Elias Kohen war mit 61 Jahren der älteste Häftling und damit bereits ein Methusalem. Denn da man die 600 Männer nach ihrer Arbeitskraft ausgewählt hatte, galten alle über 50 Jahre als alt. Die größte Gruppe an Häftlingen stellte Ungarn. Von dort kamen 202 Männer, aus Polen 144, aus Griechenland 80, aus Frankreich 43 und aus Holland 32. Insgesamt hatten die Nazis Menschen aus 17 Staaten in Echterdingen ein gesperrt, darunter neun Deutsche. Alle hatten zuvor eine Odyssee durch halb Europa durchlitten.
Die Quellen geben aber noch mehr preis über das Schicksal der Männer: Durch einen Abgleich zwischen Nummernbuch einerseits und Transportlisten, Totenbüchern und Informationen des Historikers Robert Steegmann andererseits ist nun weit gehend geklärt, was mit jedem einzelnen Menschen geschehen ist. Mit vier Transporten zwischen dem 9. und dem 20. Januar 1945 ist das Lager Echterdingen schrittweise aufgelöst worden. Etwa 321 Menschen wurden ins KZ Ohrdruf gebracht, das nach Aussagen von Überlebenden schlimmer als Auschwitz gewesen sein soll. Viele Echterdinger Häftlinge haben dort noch den Tod gefunden. 58 Männer kamen ins KZ Bergen-Belsen. Weitere 100 Personen sind ins Sterbelager Vaihingen/Enz transportiert worden, wo die Menschen buchstäblich wie die Fliegen verreckten.
Für Echterdingen selbst ergibt sich nach dieser grausamen Rechnung: für 121 Männer gibt es keinen Ausgangsvermerk, sie müssen deshalb wohl im Winter 1944/45 am Flughafen ums Leben gekommen sein. Diese Zahl ist allerdings als Annäherung zu betrachten. Denn bei aller irritierenden Verwaltungsakribie der Nazis sind die Listen nicht fehlerfrei. So verändert sich oft von Liste zu Liste die Schreibweise von Namen, weshalb sich heute beispielsweise nicht mehr klären lässt, ob es sich bei Jules Amouval und Gil Amajals um ein und dieselbe Person handelt. Auch tauchen einige Männer auf zwei Transportlisten auf – ist da den Schreiberlingen ein Fehler unterlaufen, oder ist gar ein Häftling unter falschem Namen gereist?
Dennoch liegt diese Zahl von 121 Namen sehr nahe an der Zahl der 119 tatsächlich gefundenen Leichen. 19 Männer waren im November und Dezember 1944 im Krematorium Esslingen verbrannt und im Ebershaldenfriedhof begraben worden, ihre Namen kannte man. 66 unbekannte Männer hatte man im Bernhäuser Forst in zwei Löchern verscharrt. Ihre Leichen kamen nach Kriegsende ebenfalls auf den Ebershaldenfriedhof. Die Gebeine von 34 Männern sind vor acht Wochen am Flughafen entdeckt worden. Das bedeutet: jetzt lässt sich annähernd sagen, wer diese 119 Toten sind. Nach mehr als 60 Jahren kann man ihnen ihre Identität und damit einen Teil ihrer Würde zurückgeben.
Allerdings wird wohl für alle Zeiten unklar bleiben, welcher Name zu welchen Gebeinen gehört. Theoretisch könnte man das Erbgut von lebenden Angehörigen mit jenem der Skelette vergleichen, zumal es denkbar ist, dass sich nach der Veröffentlichung der Totenliste weitere Nachkommen melden. Doch solche DNA-Analysen hat das Justizministerium mit Rücksicht auf jüdische Glaubensvorstellungen untersagt – die Leichen müssen unberührt bleiben. Zumindest erfahren die Angehörigen nun aber, dass ihr Vater oder Großvater entweder in Esslingen oder am Flughafen begraben liegt.
Auch unter den Toten sind die Ungarn mit 53 Männern am häufigsten vertreten. Besonders stark hat es auch die Gruppe der Holländer getroffen: Von den 32 Häftlingen fanden wohl 20 in Echterdingen den Tod. Tatsächlich hatte sich die holländische Kriegsgräberfürsorge als einzige Institution beim Ministerium gemeldet: Sie wollte „ihre“ Toten identifizieren und in die Niederlande überführen lassen. Seit klar ist, dass es ein Begräbnis am Flughafen geben wird, hat die Kriegsgräberfürsorge die Bitte nicht erneuert.
Für Angehörige, Ermittler und Historiker wäre es wichtig zu wissen, welche Toten auf dem Ebershaldenfriedhof und welche am Flughafen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Genau wird man es vielleicht nie wissen, aber eine gewisse Annäherung ist sogar hier möglich. Denn im Nummernbuch Natzweiler ist bei 34 Personen ein Sterbedatum eingetragen. Nun lässt sich kombinieren: die Sekretärin des damaligen Bürgermeisters von Bernhausen hat ausgesagt, dass die Toten bis zum 8. Dezember 1944 im Krematorium verbrannt wurden und dann das Massengrab im Bernhäuser Forst angelegt worden ist. Folglich dürfte das Gräberfeld am Flughafen erst danach ausgehoben worden sein. Sprich: je näher das Todesdatum eines Häftlings im Nummernbuch am Tag der Auflösung des Lagers, dem 20. Januar 1945, liegt, umso wahrscheinlich ist, dass seine Gebeine im Massengrab am Flughafen ruhen.
Was in jenem kalten Kriegsjanuar 1945 wirklich am Flughafen Stuttgart geschehen ist, wird man womöglich nie erfahren. Für eine Theorie sprechen aber einige Indizien. Aus verschiedenen Quellen weiß man, dass zuletzt im Lager Gelbfieber ausgebrochen ist. Nun finden sich im Nummernbuch allein für den 8. Januar 1945 elf Todesfälle. Womöglich ist dies der Tag des Ausbruchs der Epidemie.
Diese Vermutung wird durch die Tatsache untermauert, dass an den beiden Folgetagen 100 Kranke nach Vaihingen/Enz transportiert wurden. Ist damit versucht worden, die Epidemie einzudämmen? Auf jeden Fall ist anzunehmen, dass die Wachsoldaten angesichts der Ansteckungsgefahr nicht mehr bereit waren, die Toten per Lastwagen ins fünf Kilometer entfernte Grab im Wald zu fahren. Vielleicht hat sich der Kommandant deshalb entschlossen, direkt am Lager ein weiteres Gräberfeld anzulegen. Das hieße, dass alle Personen, die im Nummernbuch mit einem Todesdatum vom 8. Januar 1945 an verzeichnet sind, im Massengrab am Flughafen ruhen. Dabei handelt es sich um 20 Häftlinge.
Mit der Auswertung der Listen sind aber längst nicht alle Probleme gelöst. Kopfzerbrechen bereitet den Ermittlungsbehörden vor allem, dass sich ein Zeitzeuge an ein weiteres Massengrab mit sechs Personen erinnert. Man hat der Aussage so viel Gewicht zugemessen, dass in den vergangenen Wochen am US-Airfield fast das gesamte Gelände umgegraben worden ist. Doch weitere Skelette kamen nicht zum Vorschein.
Zuletzt bleibt die Frage, ob die Begräbnisstätten in Esslingen und am Flughafen nun mit den Namen der Toten versehen werden sollen, trotz aller Unsicherheiten. Zumindest eines wäre zweifellos richtig: bei der Beerdigung der 34 Gebeine am Flughafen die Namen aller Häftlinge zu verlesen. Auf dass die Welt sie hört und einmal ihrer gedenkt.
Aktualisiert: 21.11.2005