Unbekanntes Material über das KZ Dora aufgetaucht – vom 08.07.2004

Quelle: 8. Juli 2004, Neue Zürcher Zeitung

Link: http://www.nzz.ch/2004/07/08/vm/page-article9PT52.html

Neue Erkenntnisse über Hitlers V2-Fabrik

Unbekanntes Material über das KZ Dora aufgetaucht

Die Gedenkstätte Mittelbau-Dora in Nordhausen in Thüringen, wo einst die unterirdischen Fabrikationsstätten für Hitlers «Wunderwaffen» V1 und V2 eingerichtet waren, hat aus den Niederlanden neue Dokumente erhalten. Diese waren durch Zufall in einem Abfallcontainer in der Stadt Kerkrade gefunden worden.

de. Das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar ist als eines der berüchtigtsten Instrumente der Nazi-Tyrannei in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Weniger bekannt ist, dass dieses Lager der Kern eines eigentlichen Rüstungskomplexes war, der über ganz Deutschland verteilt war. Rund 60 sogenannte Aussenstellen Buchenwalds trugen dazu bei, dass Hitlers Kriegsmaschinerie immer wieder frisches Material erhielt. Zeitweise arbeiteten in diesem Buchenwald-Konglomerat über 60 000 Menschen unter zum Teil unbeschreiblichen Bedingungen. Eines der schlimmsten der Aussenlager war das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen am Südrand des Harzes, wo von Ende August 1943 an in einer gigantischen unterirdischen Produktionsanlage die Herstellung von Hitlers «Wunderwaffen» V1 und V2 sowie der Triebwerke des Düsenjägers He-162 vorangetrieben wurde.

Sklavenarbeit für die Raketenbauer
Zehntausende von zum Teil hoch qualifizierten Zwangsarbeitern schufteten sich in den Kavernen förmlich zu Tode. Anfangs hatten sie in den kühlen und feuchten Tunnels vegetiert, später kamen sie in das Barackenlager «Dora» ausserhalb der beiden Stolleneingänge. Hier herrschte ein Regime wie in all den andern deutschen Konzentrationslagern. Die Häftlinge lebten hinter Stacheldraht in Baracken, abgeschirmt von der Bevölkerung Nordhausens, der Willkür der sadistischen Lagerverwaltung schutzlos ausgesetzt, erniedrigt, schikaniert und nicht selten ermordet. Die Mühsal der Arbeit im Stollen und den Terror im Lager überlebten rund 20 000 Zwangsarbeiter nicht. Trotzdem wurden hier bis März 1945 rund 6000 «Wunderwaffen» produziert, ehe die Produktion eingestellt wurde. Am 11. April 1945 befreiten die vorrückenden amerikanischen Truppen diesen Teil Thüringens. Die Raketenpioniere wie Wernher von Braun, die massgeblich für Hitlers V2-Programm verantwortlich gewesen waren, konnten sich als Wissenschafter in den Schutz der US-Army begeben und eine glänzende neue Karriere aufbauen. Die Amerikaner nahmen gleich auch noch rund hundert funktionsfähige V2 mit, ehe sie vereinbarungsgemäss der Roten Armee die Herrschaft über Thüringen übergaben.

Schon zu DDR-Zeiten gab es in Mittelbau- Dora eine Gedenkstätte, die 1995 neu eingerichtet wurde. Die Stollen sind nach deren Sprengung 1948 durch sowjetische Truppen jetzt wieder in einem kleinen Abschnitt zu besichtigen. Auf dem Lagergelände ist ein Museum mit einer Dauerausstellung in einer nachgebauten Gefängnisbaracke eingerichtet worden. Die weite Waldlichtung am Südfuss des Kohnsteins, wie der Bergrücken mit dem Stollensystem heisst, lässt freilich nicht mehr erahnen, welche Torturen die Überlebenden des KZ Mittelbau-Dora hatten erdulden müssen.

Nun ist einer Pressemeldung der Gedenkstätte zu entnehmen, dass Anfang dieser Woche auf recht abenteuerlichen Wegen bisher unbekannte Unterlagen aus dem KZ sowie aus dem sogenannten Dora-Prozess von 1947 gegen die Lagerverantwortlichen den Weg ins Museum gefunden haben. Sie seien, so heisst es, vom Niederländer Leo Paul Bauer, dem Inhaber einer Recyclingfirma in der Stadt Kerkrade, übergeben worden. Bauer seien vor einigen Monaten beim Leeren eines Altpapier-Containers in seinem Unternehmen Fotos aufgefallen, die Leichen von Häftlingen zeigten und offensichtlich in einem Konzentrationslager der Nazizeit entstanden waren.

Dokumente im Müllcontainer
Im Altpapier seien noch zahlreiche andere Originaldokumente gefunden worden, die, wie sich herausstellte, aus dem amerikanischen Militärprozess stammten, der 1947 im ehemaligen KZ Dachau gegen die Verantwortlichen des KZ Mittelbau-Dora geführt worden war, heisst es weiter. Unter den Dokumenten hätten sich neben den Fotos aus dem befreiten Lager Dora und einem Nebenlager auch Vernehmungsprotokolle aus dem Prozess und Beweisstücke wie das Soldbuch eines SS-Angehörigen befunden.

Wie diese Unterlagen in einen niederländischen Altpapier-Container kamen, konnte, so heisst es in der Pressemeldung weiter, noch nicht genau geklärt werden. Fest steht, dass sie aus dem Nachlass des Niederländers William Aalmans stammen, der 1945 als Angehöriger der US-Army an der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora beteiligt war und danach für die Anklagebehörde im amerikanischen Dora-Prozess arbeitete. In diesem Prozess stand neben vierzehn SS-Angehörigen und vier sogenannten Funktionshäftlingen auch der Generaldirektor des «Mittelwerkes» vor Gericht.

Für Jens-Christian Wagner, den Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora, sind die aus den Niederlanden übergebenen Dokumente und Fotos, von denen viele bisher unbekannt waren, eine wertvolle Ergänzung der Sammlung. Viele von ihnen sollen in der neuen Dauerausstellung zu sehen sein, die im April 2006 im Museum der Gedenkstätte eröffnet werden soll.

Weitere Informationen unter www.dora.de

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