Ein Zeitzeuge erinnert sich – Mit 17 in der Hölle – vom 26.11.2004

Mit 17 in der Hölle

Quelle: 26.11.2004 Arnstädter Stadtecho

Victor Wyscheslawski überlebte, am 7. November sprach er über sein Schicksal
ARNSTADT (br). Tausende Häftlinge ließen 1944/45 im Außenlager S III im Jonastal und in Ohrdruf ihr Leben. Einer, der überlebte, kam jetzt nach Arnstadt zurück. „Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, zu überleben“ – als Victor Wyscheslawski im Saal der „Goldenen Henne“ diese Worte spricht, scheinen alle den Atem anzuhalten. Zuvor sprachen der 77jährige Russe und Dr. Helga Raschke, die Wissenschaftlerin forscht seit über vier Jahrzehnten zum dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Jonastales, eine Stunde lang über die Greueltaten der Nazis, berichteten vom unsäglichen Leid der Häftlinge. Historische Aufnahmen und Zeitzeugenaussagen belegen alles äußerst lebendig.

Am 7. November 1944 wurde das Außenlager S III von den Nazis gegründet, zunächst auf dem schon seit 1871 als Truppenübungsplatz dienenden 480 Hektar bei Ohrdruf. Schon zum Jahresende folgten Außenstellen in Crawinkel, Espenfeld und dem Jonastal. Zunächst werden etwa 2.500 Häftlinge aus dem KZ-Buchenwald hierher transportiert. Bis Ende 1944 wird die Zahl um ein Vielfaches steigen. 10.555 Häftlinge ergibt die Lagerzählung, durchgeführt in den wenigen Stunden am 24. Dezember, in denen ausnahmsweise einmal nicht gearbeitet wird. Bis April 1945 sind es dann 13. 726.

Victor Wyscheslawski war gerade erst 16, als er in deutsche Gefangenschaft gerät. Zunächst arbeitet er als Kriegsarbeiter, dann folgen drei Monate im Suhler Gefängnis, 1944 kommt er nach Buchenwald und schließlich ins Jonastal. S III ist im Januar 1945 eines von insgesamt 81 Außenlagern, gilt als das grausamste und menschen-verachtendste. Nur mit dünner Drillichkleidung und Holzpantinen bekleidet, oft gar barfuss, campleren die Häftlinge in unbeheizten Baracken auf Holzpritschen oder dem blanken Fußboden. Die Dek-ken reichen längst nicht für alle. Die Verpflegung ist äußert karg: ungesüßter Malzkaffee und eine wässrige Rübensuppe, in der jedes gefundene Stück Futterrübe wie ein wahrer Schatz anmutet. Wer im Stollen arbeitet, bekommt 250 Gramm Brot am Tag, wer leichtere Arbeit verrichtet, bekam weniger – Kranke nur noch 100 Gramm. Kaum einer meldet sich krank, kommt es doch fast einem sicheren Todesurteil gleich. Wer nicht arbeiten kann, soll ins Krematorium, lässt der SS-Komman-dant zynisch verlauten. Scheitern Fluchtversuche, wird oft die ganze Gruppe bestraft. Wer nicht zur Hinrichtung der Delinquenten erscheint, bekommt tagelang kein Essen. Der Arbeitstag beginnt um 3 oder 4 Uhr morgens mit oft stundenlangen Appellen. Schon der Weg zur Arbeit wird zur tödlichen Gefahr. „Wir mussten uns zu 24 Mann in Kipploren hocken. Diese fielen oft um, es gab viele Verletzte und Tote“, erinnerte sich Victor Wyscheslawski. Zunächst in drei, später in zwei Zwölf-Stunden-Schichten treiben die Häftlinge Stollen in die Muschelkalkhänge des Jonastales.

Aus acht Konzentrationslagern haben die Nazis Häftlinge nach Ohrdruf und Umgebung deportiert. Menschen vor allem aus Osteuropa, aber auch Italiener, Niederländer, Deutsche, vor allem kräftige junge Männer. Zum Skelett abgemagert, ausgezehrt von harter Sklavenarbeit, unter unhygienischsten Bedingungen lebend. „Wir konnten uns fünf Monate lang nicht waschen“, sagt Wyscheslawski. Ungeziefer und Krankheiten ausgesetzt, sind viele den Strapazen nicht gewachsen. Kein Arbeitskommando kehrt vollzählig aus den Stollen zurück. Manche sprechen von 50 Toten täglich, andere von über einhundert. Als die Alliierten näher rücken, werden die Häftlinge zu Sonderschichten getrieben. Schließlich evakuiert die SS im April 1945 das Lager. Es sollen keine Spuren der Greueltaten zurückbleiben. Eilig holt man tausende Leichen aus den Massengräbern, beginnt sie zu verbrennen. Das Vorhaben des Spurenverwischens scheitert. Der Anblick der menschlichen Überreste schockiert selbst den späteren US-Präsidenten Eisenhower. Doch für die Häftlinge kommen die US-Trup-pen zu spät. Sie sind längst auf Todesmärsche Richtung der Konzentrationslager getrieben worden. Wer zu krank zum marschieren ist, wer zurückfällt, wird erschossen. Auf dem Todesmarsch überleben von 4.500 Häftlingen gerade einmal 700. Auch den Weg nach Buchenwald pflastern täglich Leichenberge. „Die letzten Kilometer ging ich mit zwei Stöcken, hatte einen Abszess am Bein“, erinnert sich Wyscheslawski. Deutsche Freunde hätten ihm damals geholfen. Heute setzt sich der Russe für den Frieden in der Welt ein, kämpft gegen Faschismus und Terrorismus und mahnt die Jugend, dafür zu sorgen, dass nie wieder ein Mensch solches Leid wie er erleben muss.

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