Die geplatzte Bombe – vom 14.03.2005

Link zur Diskussion im GTGJ-Forum: Rainer Karlsch: Hitlers Bombe

Quelle: http://www.welt.de/data/2005/03/14/610520.html?

Die geplatzte Bombe

Der Historiker Rainer Karlsch will beweisen, daß es 1944/45 deutsche Kernwaffentests gegeben hat. Heute erscheint sein Buch „Hitlers Bombe“ über die angeblich letzte Wunderwaffe der Nazis
von Sven Felix Kellerhoff

Die Rote Armee sammelt sich an der Oder für die Schlacht um Berlin, die US-Armee kämpft in den Vororten von Köln: Im März 1945 liegt das Dritte Reich in den letzten Zügen. Nur noch ein Wunder kann jetzt Hitler und sein Regime retten. Ein Wunder – oder eine Wunderwaffe. In fast jeder Goebbels-Rede und vielen Zeitungsartikeln ist in jenen Wochen kryptisch die Rede von „neuen Entwicklungen“, dank derer die Wende im Krieg eintreten werde. Immer wieder wird der „Endsieg“ beschworen.

Spekulationen über den Hintergrund dieser Propaganda gab es schon damals und gibt es noch immer. Heute tritt der freischaffende Berliner Historiker Rainer Karlsch an, dieses Rätsel zu lüften. Die Deutsche Verlagsanstalt (DVA), ein seriöser Verlag, präsentiert sein Buch „Hitlers Bombe“. Versprochen werden „sensationelle Ergebnisse neuester historischer Forschung: Test deutscher Kernwaffen im März 1945 in Thüringen“. Denn „das Deutsche Reich stand kurz davor, den Wettlauf um die erste einsatzfähige Atomwaffe zu gewinnen.“

Karlsch, der bisher gut geschriebene Studien über den Uranbergbau in der DDR und die Wirtschaftsgeschichte des Erdöls publiziert hat, schreibt im Vorwort zum neuen Buch: „Hitlers Bombe, eine taktische Kernwaffe, deren Zerstörungspotential weit unterhalb der beiden amerikanischen Atombomben lag, wurde kurz vor Kriegsende mehrfach erfolgreich getestet.“ Einige Seiten weiter heißt es: „Im Ergebnis ihrer Forschungen hatten die deutschen Wissenschaftler, wenn man es modern ausdrückt, eine taktische Kernwaffe entwickelt.“

War also die „Wunderwaffe“, von der vor 60 Jahren so oft die Rede war, tatsächlich eine Atombombe? Fanden tatsächlich auf Rügen im Oktober 1944 und auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf in Thüringen im März 1945 Kernwaffentests statt? Das ist die Kernfrage in Rainer Karlschs Buch, und sie ist klar zu verneinen. Hitlers Bombe explodiert nicht – sie platzt, sobald man etwas genauer hinschaut.

Der Nachweis, daß es 1944/45 keine explosionsfähige deutsche Atombombe gegeben hat, ist auf drei Ebenen möglich: Erstens gab es in Deutschland damals nicht genügend spaltbares Material, die unverzichtbare Voraussetzung jeder Nuklearwaffe. Das räumt auch Karlsch ein und spekuliert über ein alternatives Atomwaffenkonzept, ohne seine Existenz und seine Funktionsfähigkeit belegen zu können.

Zweitens gibt es keinen konkreten Hinweis, daß Hitler oder seine Entourage 1944/45 ernsthaft an eine Kernwaffe geglaubt hätten. Trotzdem erweckt Karlsch diesen Eindruck: Er führt angebliche Zitate von Hitler, Goebbels, Himmler und Speer an, die sämtlich nach den Maßstäben der Quellenkritik unglaubwürdig sind. So zitiert er gleich zweimal dieselbe Speer zugeschriebene Äußerung – „ein Atomexplosivstoff, so groß wie diese Streichholzschachtel, ist imstande, ganz New York zu zerstören“- und zwar nach einer eidesstattlichen Versicherung von Speers Todfeind Hermann Giesler von 1981. Für beweiskräftig hält Karlsch ebenfalls vermeintliche Hitler-Äußerungen, die der Kampfpilot Hans-Ulrich Rudel in seinen apologetischen, nachweislich unzuverlässigen Memoiren (1983) kolportiert. Weiterhin zitiert Karlsch aus einer Goebbels-Rede, angeblich gehalten am 5. Januar 1945: „In sechs Monaten“ werde „die neueste Waffe, über die wir verfügen“ binnen „24 Stunden“ Deutschland zum Sieg führen. Darüber findet sich in Goebbels‘ sehr ausführlichen Tagebüchern freilich keine Zeile; die Quelle ist vielmehr ein 2001 geführtes Interview mit einem weiteren, als nicht besonders zuverlässig bekannten „Augenzeugen“.

Drittens gibt es keinen Beleg für die Kernwaffentests selbst. Zwar müht sich Karlsch über mehr als hundert Seiten, dem Leser das Gegenteil zu vermitteln. Doch die im Anhang publizierten nuklearphysikalischen Indizien aus Rügen und Thüringen sind genau betrachtet schwach; mindestens einer der verantwortlichen Experten braucht noch etwa ein Jahr für eine vollständige Analyse. Karlschs drei zentrale Zeitzeugenberichte über die Ereignisse von 1944/45 sind erkennbar unglaubwürdig. In zweifelsfrei echten, zeitgenössischen Dokumenten dagegen findet sich keine Spur von den Versuchen und in einem Fall sogar ein starkes Indiz gegen einen Atomtest in Thüringen: Laut Karlsch soll die Explosion am 3. März 1945 um 21.20 Uhr stattgefunden haben – also bei Dunkelheit. Davon steht zwar im Dienstkalender des Chefs des deutschen Atomprogramms, Walther Gerlach, kein Wort, aber das muß nicht unbedingt etwas bedeuten. Entscheidend ist, daß derselbe Dienstkalender für den nächsten Tag Gerlachs Abfahrt aus Thüringen um sechs Uhr morgens verzeichnet – bei Dunkelheit. Also hätte sich der Hauptverantwortliche für den Test so wenig für die – nur bei Tageslicht überprüfbaren – Folgen der vermeintlichen Nuklearexplosion interessiert, daß er umgehend nach dem „Test“ abreiste.

Sehr zweifelhaft ist Karlschs Umgang mit einem weiteren Schlüsseldokument. Es handelt sich angeblich um ein russisches Handschreiben, vom 30. März 1945 und an Stalin oder Außenminister Molotow gerichtet. Igor Kurchatov, der Chef des sowjetischen Atomprojekts, beurteilte darin einen kurz zuvor eingegangenen Spionagebericht über einen deutschen Atomtest. Selbst wenn all das stimmen sollte, bleibt festzuhalten: Die entscheidende Distanzierung des Briefes („auf Grundlage des zur Kenntnis genommenen Materials bin ich nicht vollkommen überzeugt, daß die Deutschen tatsächlich Versuche mit einer Atombombe unternommen haben“) unterschlägt Karlsch in seinem Text; man findet die Passage erst versteckt im Anhang.

Im März 1945 hätte nur eine monströse Wunderwaffe Hitler vor dem Untergang bewahren können. Auch Rainer Karlsch räumt ein, daß das deutsche Atomprogramm noch nicht so weit war, eine Bombe vom Kaliber des Hiroshima-Typs zu bauen. Doch sein Buch kann nicht belegen, daß es überhaupt deutsche Kernwaffentests gegeben hat. Interessant ist angesichts dessen, wie das Werk mit derartigen Versprechungen den Weg in die Öffentlichkeit finden konnte – und das bei einem seriösen Verlag.

Für die laut Gerüchten in der Buchbranche ökonomisch angeschlagene DVA bahnt sich hier ein ähnliches Fiasko an wie Anfang 2001 für den ebenfalls renommierten Propyläen-Verlag mit dem „Enthüllungsbuch“ des Amerikaners Edwin Black über „IBM und den Holocaust“. Wenige Monate später erwischte es den damaligen Alexander Fest Verlag mit Lothar Machtans Spekulationen über „Hitlers Geheimnis“. Laut Machtan soll der Diktator homosexuell gewesen sein. Experten kamen aus dem Gelächter über Black und Machtan gar nicht mehr heraus; beide Bücher erwiesen sich trotz Marketingkampagnen wirtschaftlich als Flop.

Zur Ehrenrettung von Rainer Karlsch bleibt festzuhalten: Rund 150 der 416 Seiten enthalten durchaus solides historisches Handwerk und fügen dem bisherigen Wissen über deutsche Uranforschung im Zweiten Weltkrieg einzelne, bislang unbekannte Facetten hinzu. Der Rest des Buches aber erweist sich als trübes Gebräu aus Hörensagen und Desinformation. Warum gibt sich die DVA, die zur FAZ-Gruppe gehört, für ein derartig unausgegorenes Buch her? Das breite Medienecho auf die wohl nicht ganz zufällig lancierte Agenturmeldung über die „deutsche Atombombe“ vor zehn Tagen gibt die Antwort: Knallige Thesen zu Hitler verkaufen sich mitunter einfach glänzend. Wenn dabei die Seriosität auf der Strecke bleibt, ist das nur ein Kollateralschaden.

Artikel erschienen am Mo, 14. März 2005

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