Fast so hell wie tausend Sonnen? Waren die Nazis näher an einer funktionierenden Atombombe als bishe – vom 15.03.2005

Link zur Diskussion im GTGJ-Forum: Rainer Karlsch: Hitlers Bombe

Quelle: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19682/1.html

Fast so hell wie tausend Sonnen?
Marcus Hammerschmitt 15.03.2005

Waren die Nazis näher an einer funktionierenden Atombombe als bisher geglaubt?
Als Anfang März die Deutsche Verlags-Anstalt das neue Buch des Wirtschaftshistorikers Rainer Karlsch ankündigte, ging ein Gemurmel durch den Blätterwald. Wurde in der Verlagsankündigung doch Erstaunliches vermeldet: Karlsch könne beweisen, dass die Nazis a) 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, eine Atomwaffe in Händen hatten und b) deren Funktionieren in Thüringen und auf Rügen getestet haben, mit Hunderten von Toten als Konsequenz.

Aus dem Ankündigungstext, der von der dpa verbreitet wurde und in etliche Zeitungsberichte Eingang fand, war so wenig Genaues zu erseh en, dass die Meldung mit einiger Skepsis aufgenommen wurde. In einem Artikel der Süddeutschen vom 4.3.05 („Hitlers Strahlkraft“) machten sich die Autoren Alex Rühle und Ulrich Kühne denn auch von Herzen über Karlsch lustig. Er sei ein dubioser Autor, das Ganze offensichtlich ein Murks aus Gerüchten und unbelegbaren Berhauptungen. Der Titel des Buchs („Hitlers Bombe“), der die unselige Tradition fortsetzt, das Dritte Reich als Adolf Hitlers Privatunternehmen aufzufassen, sowie seine Aufmachung (auf den ersten Blick denkt man an einen Thriller von Philip Kerr), mögen seinem Verkauf nützen, stärken aber den Verdacht, es mit einem unseriösen Reißer zu tun zu haben.

Quatschköpfe schreiben anders

Don’t judge a book by its cover – der Band liegt jetzt vor und kann geprüft werden.

Um es gleich zu sagen: Die DVA hat sich nicht über Nacht in einen Verlag verwandelt, der plötzlich mit Reichsflugscheiben, Vril-Kraft und Antigravitation hausieren geht. Karlsch mag ein Außenseiter sein auf dem Feld, auf dem er sich hier bewegt, Quatschköpfe aber schreiben anders. Das Buch ist gut strukturiert, gut lesbar und spart nicht an solide wirkenden Quellen, Verweisen und Belegen. Die teilweise verworrene Geschichte der Kernphysik im Dritten Reich wird übersichtlich und allgemeinverständlich dargestellt. Ungewöhnlich die Klarheit, mit der die Legende von der friedlichen Atomforschung im Dienste der Energiegewinnung durchlöchert wird – eine Legende, die vor allem die Gruppe um Heisenberg immer wieder auftischte, nachdem sie 1945 daran gescheitert war, im schwäbischen Haigerloch einen Atomreaktor zum Laufen zu bringen (vgl. In des Teufels Atomkeller).

Karlsch bringt in den ersten Teilen seines Buchs Beleg um Beleg dafür, dass auch die Nobelpreisträger Hahn und Heisenberg sehr wohl um die militärische Relevanz ihrer Forschung wussten, und dass von einer aktiven Verhinderung der „Atombombe Hitlers“ durch die Creme der deutschen Kernphysik nicht gesprochen werden kann. Das wusste man im Prinzip schon lange, und es ergibt sich bereits aus der Natur der Sache: Die „friedliche“ und die militärische Nutzung der Atomenergie sind nicht voneinander zu trennen, weil letztere erstere voraussetzt. Karlsch beschreibt detailliert Arbeitsgruppen, die zielstrebig an der deutschen Atombombe arbeiteten. Wie zum Beispiel eine Gruppe um Manfred von Ardenne, die unter Führung und Aufsicht des Reichspostministers Wilhelm Ohnesorge mit Nachdruck an den Problemen der Isotopentrennung und Zyklotronforschung arbeitete. Oder eine Arbeitsgruppe um Kurt Diebner die in Gottow bei Kummersdorf einen Versuchsreaktor baute.

Reaktorunfall in Kummersdorf?

Stand der Wissenschafts- und Militärgeschichte war bisher, dass die mangelnde Koordination der über das Reichsgebiet verstreuten Arbeitsgruppen, die Kriegssituation, Kompetenzgerangel und nicht zuletzt die erzwungene Emigration vieler brillanter Forscher einen Erfolg der bisweilen fanatisch (bis März 1945!) vorangetriebenen Anstrengungen vereitelt hätten. Im Prinzip richtig, sagt Karlsch, aber im Detail falsch. Seiner Überzeugung nach hat es einen Atomreaktor gegeben, der im Gegensatz zu dem Haigerlocher Gerät kritisch wurde (derjenige Diebners in Gottow/Kummersdorf nämlich). Laut Karlsch hat dieser Reaktor auch prompt den ersten deutschen Reaktorunfall (mit vermutlich zwei Toten) hervorgebracht. Diese Behauptung will er mit Proben von der angeblichen Unglücksstelle belegen, die seiner Aussage nach noch heute deutlich überhöhte Strahlungswerte aufweist.

Für die Validität der Proben und ihrer Interpretation führt er eine ganze Garde von Gewährsmännern an, die bei den Universitäten in Marburg und Gießen sowie der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt Braunschweig beschäftigt waren oder sind. Was er zu sagen hat, deckt sich zum Teil mit Berichten der Journalistin Gabriele Goettle, die in ihrem Buch „Experten“ (vgl. Was wissen) von einem Besuch in Kummersdorf berichtet, bei der ihr der ortskundige Werkzeugmacher Werner Nietschmann den ehemaligen Standort des Reaktors gezeigt und von Messungen des Berliner Hahn-Meitner-Instituts berichtet hatte. Diese Messungen stehen offensichtlich nicht mit denen in Zusammenhang, die Karlsch in Auftrag gab, stellten aber laut Nietschmann ebenfalls eine leicht erhöhte Radioaktivität fest. Schon allein die Existenz eines kritisch gewordenen Reaktors auf dem Boden des Deutschen Reichs 1945 würde eine Sensation darstellen, zumal, wenn er tatsächlich in der Absicht gebaut worden wäre, Plutonium für den Atomwaffenbau herzustellen, wie Karlsch behauptet.

Existenz eines unbeachteten Zweiges der Nazi-Nuklearwaffenforschung

Aber er toppt diese Behauptung mit einer anderen, so steilen These, dass man beim Lesen spontan den Kopf schüttelt. Karlsch behauptet nicht mehr und nicht weniger, als dass es einen weiteren, bisher völlig unbeachteten Zweig der Nazi-Nuklearwaffenforschung gegeben habe, und dass dieser Zweig, im Unterschied zu den auf Uran und Plutonium konzentrierten Arbeiten und an ihnen teilweise vorbei, zum „Erfolg“ geführt habe. Mithilfe von „nuklearen Hohlladungen“, die sich das Implosionsverfahren zunutze machten, sei es gelungen, subkritische Mengen von Spaltmaterial zur Kernspaltung zu zwingen, und/oder Lithiumdeuterid zur Kernfusion.

Freilich sei die Technologie so unausgereift und die Menge an verfügbarem Material zu Spaltung und/oder Fusion so gering gewesen, dass man die erzielte Sprengkraft nicht mit den ersten Atombomben der Amerikaner vergleichen könne; eine sich selbst unterhaltende Kettenreaktion habe es auf keinen Fall gegeben, und daher müsse man die produzierten Waffen eher als taktische nukleare Sprengköpfe unterhalb der Schwelle dessen begreifen, was man sich heute unter einer Atomwaffe vorstellt. Die Bomben seien mindestens zwei Mal, und zwar am 12. Oktober 1944 auf der Halbinsel Bug (Rügen) und am 3. März 1945 auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf (Thüringen) „erfolgreich“ getestet worden, einmal unter Führung der Marine, das zweite Mal unter der Führung der SS.

Bei dem Thüringer Test habe es absichtlich oder aufgrund von Fehleinschätzungen Hunderte von Toten (vor allem Kriegsgefangene) gegeben, die später auf großen Scheiterhaufen in der Nähe des Testgebiets verbrannt worden seien. Auf diese erfolgreichen Tests hätten sich die gut dokumentierten Sprüche von Hitler, Goebbels, Speer und Mussolini über eine Wunderwaffe, die den Krieg noch herumreißen könne, gegen Ende 1944 und Anfang 1945 bezogen, auf nichts sonst, so Karlsch.

Prototypische Mini-Kernfusionswaffen in den Händen der SS?

Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs als nukleares Testgebiet? Prototypische Mini-Kernfusionswaffen in den Händen der SS? Bewegen wir uns hier nicht doch im Land der Hohlerde-, Welteis- und Wunderwaffenspinner, von denen im Internet schon zu viele unterwegs sind, als dass ihr Gerede auch noch zwischen zwei Buchdeckel gepresst werden müsste? Karlsch stützt seine Behauptungen auf verschiedene Konstruktionszeichnungen sowie Forschungs- und Spionageberichte, die er in ganz Europa ausfindig gemacht haben will (und von denen er einige abdruckt),auf Augenzeugenberichte, die von anderen nie ernst genommen wurden, zudem auf Luftbilder (von denen im Buch leider keines zu finden ist) und wiederum auf Bodenproben von den Orten der angeblichen Kernwaffenversuche.

Diese Bodenproben, die laut Karlsch wiederum von den bereits erwähnten Wissenschaftlern untersucht wurden, bieten einigen Interpretationspielraum – aber seiner Überzeugung nach lässt das messbare Vorhandensein radioaktiver Stoffe (vor allem Cäsium 137 und Kobalt 60), deren spektrographischer „Fingerabdruck“ weder mit Kernwaffentests der Nachkriegszeit noch mit dem Tschernobyl-Unglück übereinstimmt, eigentlich nur eine Schlussfolgerung zu: Die Kernwaffen existierten und sie wurden erfolgreich getestet. Prof. Dr. Uwe Keyser (Physikalisch-Technische Bundesanstalt) äußert sich in Karlschs Buch dazu folgendermaßen:

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Es ist angereichertes Material in einem breiten Spektrum vorhanden, das keine natürliche Quelle als Ursache hat. Die Isotopenanomalien sind teilweise drastisch und passen zu keinem bekannten Einzelereignis. Tschernobyl kann als Ursache für die Spaltprodukte ausgeschlossen werden.

Prof. Reinhard Brandt von der Philipps-Universität Marburg wird mit einer Aussage zitiert, die noch weiter reicht.

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In Kenntnis aller Indizien und Messergebnisse – der erhöhten Cäsium -137- und Kobalt-60-Aktivität, dem Nachweis von U238 und U235, der Partikel aus einem Prozess von Hochtemperaturschmelze – kamen die von uns konsultierten Wissenschaftler zu der Schlussfolgerung, dass in Ohrdruf Spuren eines nuklearen Ereignisses vorhanden sind. Professor Brandt: „Das Wesentliche dieses Ereignisses ist, dass während der Explosion auch deutlich Kernreaktionen mit Energiefreisetzung abgelaufen sind.“

Man kann Karlsch vorwerfen, dass seine Quellen lückenhaft und in Teilen selbstwidersprüchlich sind. Man kann darauf hinweisen, dass er eine der interessantesten Fragen nicht gelöst hat, nämlich die, um was für eine Bombe es sich denn nun genau gehandelt hat. Man kann bemerken, dass vor allem in den Abschnitten zu der Entwicklung und der weiteren Geschichte dieser Bombe zu viele seiner Sätze mit „vielleicht“ und „möglicherweise“ beginnen. Aber man kann ihm kaum vorhalten, er habe sich nicht um eine Prüfung seiner Thesen vor Ort bemüht. Wer das wie die Netzeitung in einem Artikel von gestern tut, hat entweder das Buch nicht wirklich gelesen, oder unterstellt Karlsch implizit, dass er von A-Z lügt.

Krasse Fälle von plumpen Lügenmärchen hat es in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder gegeben, und die Wissenschaftspublizistik blieb davon auch nicht verschont. Pardon, aber das Buch von Karlsch wirkt nicht wie das Werk eines krankhaften oder geschäftsmäßigen Lügners.

Dunke Flecken auf dem Gewissen der deutschen Physiker- und Ingenieurselite

Wenn im Kern stimmt, was er behauptet, dann hat das für die Geschichtsschreibung erhebliche Konsequenzen. Das unverschämt gute Gewissen der deutschen Physiker- und Ingenieurselite, die sich im Dritten Reich mit Kernphysik befasste, würde noch weit größere und dunklere Flecken aufweisen, als bisher bekannt. Nicht nur wäre die Legende endgültig widerlegt, man habe aus Gewissensgründen die Bombe verhindert – ganz im Gegenteil: Es hätte Arbeitsgruppen gegeben, die mit fanatischem Eifer an einer nationalsozialistischen Atombombe gearbeitet hätten und die bis zur Erstellung funktionsfähiger Protoypen auf dem Stand der ihnen verfügbaren Technik erfolgreich gewesen wären. Die Legendenbildung dieses sauberen Vereins ehrenwerter Männer, die bereits während der Internierung der Spitzenkräfte in Farm Hall einsetzte, sowie die Nachkriegskarrieren dieser Spitzenkräfte und ihrer Zuarbeiter müssten im Licht von Karlschs Ergebnissen neu bewertet werden. Karlsch selbst kann am Ende seines Buchs nur kurz darauf eingehen, das Thema wäre aber ein eigenes Buch absolut wert.

Der moralischen Empörung über den Ersteinsatz von Atomwaffen durch die Amerikaner, die ebenfalls bereits von den gefangenen Kernphysikern in Farm Hall mit so unnachahmlicher Selbstgerechtigkeit formuliert wurde und bis heute in der Friedensbewegung eine klar definierte Rolle spielt, würde durch die Bestätigung von Karlschs Behauptungen eine Menge Luft abgelassen.

Vorausgesetzt, die deutschen Atomwaffen haben existiert, kann es keinen Zweifel daran geben, dass sie unter günstigeren Bedingungen eingesetzt worden wären. Schon der Test in Ohrdruf (wenn er denn in der beschriebenen Weise stattgefunden hat) wurde mit der nazitypischen Verachtung für fremdes und eigenes Leben inszeniert; die Augenzeugenberichte von den verbrannten und verstrahlten Kriegsgefangenen lesen sich ähnlich wie Berichte aus Hiroshima.

Aber auch die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte, die zunehmend als Fokus für einen deutschen Opfermythos herhalten müssen, hätten eine bis dato noch nicht so klar gesehene Bedeutung gehabt. Karlschs Buch macht deutlich, dass die ständige Verlagerungen der nuklearen Forschungsinstute, die durch die Luftangriffe auf die betreffenden Großstädte notwendig wurden, eine bedeutsame Rolle bei der Störung und Verzögerung ihrer Arbeit spielte. Ohne es zu wissen, haben die alliierten Bomberbesatzungen möglicherweise deutlicher zur Verhinderung einer wirklich einsatzfähigen Atomwaffe in den Händen der Nazis zu beigetragen, als bisher bekannt. Eine genaue, ausgedehnte und vorurteilsfreie Prüfung von Karlschs Thesen scheint angeraten.

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